Wer hätte das
gedacht?! »Postfaktisch« ist von der Gesellschaft für Deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2016 gekürt
worden. Schon aufgrund der inflationären Verwendung dieses Wortes in den Medien
wäre der Titel »Unwort des Jahres« passender gewesen. Dies gilt noch mehr, wenn
man sich anschaut, wie das Wort gebraucht wird. Von postfaktisch wird
gesprochen, wenn Menschen mehr auf ihre Gefühle vertrauen als auf Fakten. Dies
sei vor allem in politischen Debatten ein zunehmendes Problem geworden. Einige
Beobachter, unter anderem die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, sehen
darin einen tiefgreifenden Wandel. Diesem Wandel wollte auch die Gesellschaft
für Deutsche Sprache durch die Wahl zum Wort des Jahres Rechnung tragen.
Das Wort
»postfaktisch« wurde vom englischen Wort »post-truth« entlehnt. Man könnte das
für eine sehr freie Übersetzung, um nicht zu sagen Gleichsetzung, von Wahrheit
(truth) mit Fakten halten. Das Präfix »post-« bedeutet so viel wie »nach-«. Mit
diesem einen Wort werden also zwei Unterschiede auf einmal markiert. Zum
einen wird zwischen Wahrheit und Gefühlen unterschieden, zum anderen zwischen früher und heute. Lässt man sich
»postfaktisch« auf der Zunge zergehen, dann soll damit behauptet werden, dass
wir oder zumindest ein Großteil der Menschen heute gleichsam »nach der
Wahrheit« oder »in der Unwahrheit« leben würden. Statt von Fakten würden
sich die Menschen heute von Gefühlen leiten lassen. Dieser Umstand wird zudem
negativ bewertet. Denn wer sich von Gefühlen leiten lässt, handelt
unvernünftig. Wer unvernünftig handelt, weicht von der Norm ab und gefährdet
das soziale Miteinander. Das gilt insbesondere für Politik. Unausgesprochen ist also noch
ein dritter, moralischer Unterschied mit im Spiel, der sich in Verbindung mit
dem zeitlichen Unterschied als Sehnsucht nach der guten alten Zeit
verstehen lässt, als die Menschen ihr Handeln noch von Fakten leiten ließen. So einfach ist es heute offensichtlich nicht mehr.