Sonntag, 22. Januar 2017

Tipps für einen gelingenden Diskurs



Im Jahr 2016 wurde das postfaktische Zeitalter ausgerufen. Da »postfaktisch« in politischen Debatten vor allem als Kampfbegriff dient, ist es sehr zweifelhaft, ob damit eine treffende Gegenwartsdiagnose gestellt wurde. An der Beobachtung, dass sich viele Menschen heute stärker auf ihre Gefühle verlassen als auf die Fakten, offenbart sich die Aufklärung möglicherweise selbst als Mythos. Das betrifft zumindest die Vorstellungen von Aufklärung, Vernunft und Wahrheit, die unter Politikern, Intellektuellen und vielen Journalisten geteilt werden. Maßen sie sich doch an, die Aufgabe der Wissenschaft und der Öffentlichkeit an sich zu reißen und die offizielle Sicht der Regierung als einzig gültige Wahrheit auszugeben. Wie man allerdings auf die Idee kommen kann, dass ausgerechnet in der Kommunikation zwischen Politikern und Bürgern die reine Vernunft herrschen würde, bleibt nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts schleierhaft. Man darf dies wohl eher als Hinweis lesen, wie mangelhaft einige Politiker über politische Prozesse aufgeklärt sind. Politische Kommunikation hat nicht Wahrheitsfindung zum Ziel, sondern die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen. Verlässliche Informationen sind dafür selbstverständlich äußerst wünschenswert. Notwendig sind sie jedoch nicht. Das hat die Geschichte oft genug gezeigt.

Doch trotz aller politischen Verzerrungen, wird mit dem Begriff »postfaktisch« auf ein ernstzunehmendes Problem aufmerksam gemacht. Ob sich viele Menschen tatsächlich zunehmend mehr auf ihre Gefühle verlassen, sei einmal dahin gestellt. Trotzdem kann man nicht ignorieren, dass man es in den gegenwärtigen politischen Debatten zum Teil mit Personen zu tun hat, die sich nicht mehr durch Argumente überzeugen lassen. Unter dieser Voraussetzung ist es nur noch schwer möglich einen Diskurs zu führen und zu kollektiv bindenden Entscheidungen zu kommen. Umso dringlicher wird die Frage, wie sich heute noch ein Diskurs führen lässt?


Diskursführung zwischen Moral und Egozentrik

Es ist die Frage nach einer Lösung. Doch ist das Problem bereits ausreichend bestimmt, wenn man feststellt, dass viele Menschen für Argumente nicht mehr zugänglich sind? Man kann es bei dieser Feststellung belassen und zu der Schlussfolgerung kommen, dass man mit diesen Personen nicht mehr reden kann. Dann sollte man allerdings auch nicht mehr die Diskursverweigerung der Anderen beklagen, denn die Unlust, miteinander zu reden, beruht auf Wechselseitigkeit. In dieser Pattsituation muss allerdings auch die Frage gestellt werden, ob die Einen wirklich so ignorant sind oder die Argumente der Anderen möglicherweise so schwach, auch wenn sie selbst sie für noch so überzeugend halten? Sollte es nicht stutzig machen, dass das vermeintlich Überzeugende doch nicht für jeden so überzeugend klingt? Aber statt sich in Selbstkritik zu üben, wird die Schuld bei den Anderen gesucht. Das gilt für beide Seiten. Die einen schreien Lügenpresse, die anderen beklagen den Eintritt in ein postfaktisches Zeitalter. Letztlich stehen sich zwei Gruppen gegenüber, die sich gegenseitig dasselbe vorwerfen. Dass ein Diskurs unter dieser Voraussetzung nicht funktionieren kann, ist offenkundig. Aber wie kann er wieder funktionieren?

Um diese Frage beantworten zu können, muss man zunächst fragen, wie es zu dieser Situation kommen konnte? Diesbezüglich gilt es als erstes festzustellen, dass der Begriff »Diskurs« den Umstand verdeckt, dass es sich bei jeglicher Diskussion oder Debatte um die Austragung eines Konflikts mit den Mitteln des Verstandes handelt. Der Konflikt beginnt, sobald Kritik geäußert wird; sobald eine Mitteilung ganz oder teilweise nicht akzeptiert wird. Erst der Umgang mit Kritik wird zeigen, wie diskursfähig ein Gesprächspartner ist. Hier liegt für mich gegenwärtig das eigentliche Problem. Viele sind nicht mehr in der Lage annehmbare Kritik zu formulieren oder eine solche anzunehmen, weil sie nur noch die unkritische Bestätigung ihrer eigenen Position erwarten. Wird diese Erwartung enttäuscht, wird jeder Vorwand genutzt, um unliebsame Diskursteilnehmer zu diskreditieren und vom Diskurs auszuschließen. 

Eine beliebte Methode diese Ablehnung zu kommunizieren, besteht in der Inanspruchnahme von Moral. Werte, wie Menschlichkeit, Freiheit oder Offenheit, werden einfach behauptet und sich selbst zugeschrieben, ohne näher begründen zu können, was diese Werte genau bedeuten oder wie sie sich verwirklichen lassen. Schon Niklas Luhmann beobachtete scharfsinnig, dass der Bezug auf Werte davon entlastet, sie begründen zu müssen. Sie werden vielmehr unterstellt und man spielt nur auf sie an, ohne sie explizit zu thematisieren. Würde man sie explizit thematisieren, eröffnet man die Möglichkeit ihrer Ablehnung (vgl. Luhmann 1997, S. 343). So konnte man bei den über Jahrzehnte eingespielten Diskussionsgewohnheiten in Deutschland lange darauf vertrauen, dass das politische Publikum die beschworenen Werte unhinterfragt akzeptiert und ebenfalls für gut hält. Das schreckt mögliche Kritik an den in Anspruch genommenen Werten ab, denn wer diese kritisiert, zieht den Verdacht auf sich für das Gegenteil zu stehen. Das lässt sich politisch und massenmedial besonders gut ausschlachten, ungeachtet der vorgebrachten Argumente. Öffentliche Aufmerksamkeit erregt nur die Kritik der unkritisch für gut befundenen Werte. Die Begründungslast wird auf die Kritiker abgeschoben in der Hoffnung, dass der mögliche öffentliche Ansehensverlust schwerer wiegt als die Begründungslast. 

Werte und Moral dienen somit in öffentlichen Auseinandersetzungen lediglich dazu sich von Personen abzugrenzen, die nicht für menschlich, freiheitlich und offen gehalten werden. Allerdings werden sich bei solch hohen Ansprüchen an die Gesprächspartner wahrscheinlich die wenigsten als würdig erweisen am Diskurs teilnehmen zu dürfen. Derzeit werden die Vorwürfe, jemand vertrete eine rechtsextreme, faschistoide oder menschenfeindliche Haltung ziemlich leichtfertig benutzt, obwohl sie bei genauerem Hinsehen nur selten gerechtfertigt sind. Häufig werden die genannten Werte nur zur Rechtfertigung benutzt, um selbst unmenschlich, autoritär und intolerant zu handeln; ein Phänomen, dass aus der Geschichte hinlänglich bekannt ist. Die Französische Revolution führte die Paradoxie der Moral, nämlich das gute Absichten schlechte Folgen haben können, zum ersten Mal in aller Deutlichkeit vor Augen. Diese Paradoxie lässt die beschworenen Werte schließlich selbst fragwürdig erscheinen und es tut sich eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf. Werden sie auf diese Weise benutzt, unterscheiden sich Menschlichkeit, Freiheit und Offenheit nicht von offen diskriminierenden Kategorien, wie Rasse, Volk oder Nation. Diese Funktion der genannten Werte bleibt den mit ihnen diskriminierten Personen nicht lange verborgen und sie werden ihrerseits versuchen diese Doppelmoral zu entlarven. Dann braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn man trotz guter Absichten kaum noch Gehör findet.

Der Bezug auf moralische Werte ist also eine effektive Methode, um Personen vom Diskurs auszuschließen. Häufig wird auf diese Weise auch einfach alles diffamiert, was nicht der eigenen Sichtweise entspricht. Gerade durch die fehlende Begründung lässt Moral bestimmte Motive als allgemeingültig, unpersönlich, unumstößlich, gleichsam als transzendent erscheinen. Moral suggeriert Autorität, Überlegenheit und Unantastbarkeit. Auch das schreckt Kritik ab, wodurch sich Moral ziemlich willkürlich für alles in Anspruch nehmen lässt, was einem nicht gefällt. Teilweise kann man sich daher des Eindrucks nicht erwehren, dass mit Hilfe von Moral partikulare, möglicherweise sogar persönliche Ansichten als allgemeingültig ausgegeben werden. Die fehlende Begründung lässt diesen Umstand heute allerdings umso offensichtlicher werden, was den Widerstand gegen sie nur noch verstärkt. So wünschenswert man Moral vielleicht findet, sollte man trotzdem erst einmal zur Kenntnis nehmen, welche Funktion Moral tatsächlich im Diskurs hat. Tut man das, könnte man den Einsatz von Moral selber für schlecht halten, weil sie überwiegend streitfördernd wirkt (vgl. Luhmann 1990, S. 26f.). Abgesehen davon taugt sie nur noch für diskursive Folklore. Man schmückt sich mit ihr in wohlklingenden Sonntagsreden, um sich selbst zu feiern. 

Leider wird dieser Fehler wiederholt, wenn darüber diskutiert wird, wie sich heute ein Diskurs führen lässt. Kontrafaktisch werden viel zu idealistische Erwartungen an den Diskurs herangetragen. Auf dieser Wertebasis ist man nur in der Lage zu benennen, was falsch läuft und mit wem man grundsätzlich nicht sprechen möchte. Es ist jedoch ziemlich widersprüchlich, sich einerseits gesprächsoffen und tolerant zu geben und andererseits zu versuchen die Bedingungen zu diktieren, unter denen man überhaupt bereit ist einen Diskurs zu führen. Wenn jeder so rangehen würde, kann ein Diskurs nicht funktionieren. Das ständige Betonen der eigenen gute Absichten scheint selbst Teil des Problems zu sein, das eigentlich gelöst werden soll.

Die deutsche Konsenskultur hat in dieser Hinsicht viel Schaden angerichtet, denn sie hat das Unterstellen gemeinsamer Werte zu einer bequemen Angewohnheit werden lassen. Man gibt sich der Illusion hin in einer Wertegemeinschaft zu leben. Wird jedoch dieser Konsens auf die Probe gestellt und es zeigt sich, dass doch nicht alle dieselben Werte teilen, dann schlägt das wohlwollende Unterstellen in argwöhnisches Unterstellen um. Statt den besten Absichten werden den Gesprächspartnern dann die schlimmsten Absichten unterstellt. Wenn Kritik allerdings einzig und allein mit den eigenen guten Absichten begründet wird, um mögliche kritische Einwände zu entkräften, hebt sich das kritische Bewusstsein durch seine Legitimation selbst auf. Wenn darüberhinaus sowohl Aufklärung als auch die Gegenaufklärung kritisches Bewusstsein für sich in Anspruch nehmen, dann, so bemerkte Bruno Latour, verschwimmt die Grenze zwischen Kritik und Verschwörungstheorie (vgl. 2007). Dann stehen sich zwei unvereinbare Sichtweisen gegenüber und es ist nicht mehr möglich einen Kompromiss zu finden. Stattdessen können nur noch politische Feindschaften begründet und gepflegt werden. 

Die Konsenskultur hat vergessen lassen, dass Diskurse die zivilisierte Austragung von Konflikten mit den Mitteln des Verstandes sind. Über Jahrzehnte hing man der naiven Vorstellung an, dass politische Debatten als gemütliches Palavern gleichsam am Lagerfeuer geführt werden könnten. Das war ein gefährlicher Irrtum. Gemessen am Ideal eines machtfreien Diskurses musste bereits das Überzeugen mit Argumenten als Eingriff in die persönliche Autonomie betrachtet werden, der zu unterlassen ist. So war die Diskursethik vielleicht nicht gemeint. Sie wird aber so gelebt. Inzwischen ist eine bedenkliche Mischung aus egozentrischer Konfliktunwilligkeit und argumentativer Konfliktunfähigkeit herangereift, die häufig daher rührt, dass viele nicht mehr bereit oder in der Lage sind, ihre Standpunkte zu begründen. Sie werden einfach so behauptet und es wird erwartet, dass sie kritiklos von den Gesprächspartnern bestätigt und übernommen werden. Moral ist das semantische Feigenblatt, dass die Annahme attraktiv und die Kritik unattraktiv machen soll. 

Wie lassen sich diese Diskussionsgewohnheiten ändern? 


Zeit zum Umdenken

Mit dem Internet war es zwar noch nie so einfach Kritik zu äußern. Zugleich war es aber auch noch nie so einfach möglichen Konflikten aus dem Weg zu gehen und seine eigene Sichtweise ungestört zu pflegen. Obwohl Kritik die Möglichkeit bietet, die eigene Sichtweise zu erweitern, versucht man sich lieber dagegen zu immunisieren. Kritisierbar sollen immer nur die Anderen sein. Wird die Kritik nicht angenommen, lässt man den Konflikt lieber eskalieren, indem man unliebsame oder gar schwierige Gesprächspartner in der beschriebenen Art und Weise versucht auszuschließen. Statt einer offenen Gesprächshaltung bilden sich bei diesen Diskursgewohnheiten bloß Vorurteile und Ressentiments. 

Max Scheler beschrieb in seiner Studie über das Ressentiment, dass der wichtigste Ausgangspunkt für Ressentimentbildung das Verlangen nach Rache oder Revanche ist, wenn eine Niederlage erlitten wurde (vgl. 2004 [1912], S. 4ff.). Dabei ist es unerheblich, ob es sich um eine tatsächliche oder gefühlte Niederlage handelt. Entscheidend ist die Ohnmacht, wenn die Revanche versagt wird oder unmöglich ist. Ist diese Bedingung erfüllt, ist beim Unterlegenen der Keim für ein Ressentiment gegenüber dem Kontrahenten gepflanzt. 

In der oben beschriebenen Pattsituation zwischen den beiden Konfliktparteien, die nicht mehr für die Argumente der anderen zugänglich sind, ist diese Bedingung bereits erfüllt. Obwohl beide Konfliktparteien glauben, die richtige Position zu vertreten, sind sie im Hinblick darauf, was sie bei ihren Gegnern erreicht haben, ohnmächtig und müssen sich zurückgesetzt und abgelehnt fühlen. Es gibt zwar durch immer wieder stattfindende öffentliche Auseinandersetzungen wiederholt Gelegenheiten zur Revanche. Diese bleiben aber ergebnislos. Beide Seiten bekräftigen lediglich ihre Position und damit zugleich die Ablehnung der Position des Gesprächspartners. Das lässt die Ressentiments über den Gegner auf beiden Seiten wachsen. Die Art und Weise, wie in Deutschland politische Debatten geführt werden, hat für die Demokratie einen Prozess mit ungewissem politischen Ausgang in Gang gesetzt. Demokratie erfordert eine offene, kritikfähige Haltung bei den Beteiligten. Ist diese nicht gegeben, wird eine Demokratie schleichend ausgehöhlt. Das sollte genügend Anlass bieten, die derzeitigen Diskursgewohnheiten zu überdenken. 

Wenn man versucht schwierige Gesprächspartner auszuschließen, kann man überdies nicht gehört werden, was es zugleich unmöglich macht, dass man diese Personen vielleicht doch noch überzeugt. Der Lösungsverschlag lautet daher von einer exklusiven auf eine inklusive Gesprächshaltung umzuschalten. Das bedeutet, auch mit Personen zu sprechen und sich mit Argumenten auseinandersetzen, die man vielleicht nicht hören will. Der Verzicht auf Moral erscheint nahe liegend, reicht aber nicht aus. Damit hat man einen überflüssigen Konfliktkatalysator ausgeschaltet. Aber wie lassen sich Diskussionen ohne Moral führen?

Gesprächsführung und Konfliktbearbeitung ist ein weites Themengebiet und es sind bereits eine Menge Bücher darüber geschrieben worden – die meisten im Bereich Personalführung, Psychotherapie und Soziale Arbeit. Die darin verarbeiteten Erfahrungen wurden im persönlichen Kontakt mit Klienten gemacht. Diese können sicherlich nicht Eins zu Eins auf öffentliche Debatten übertragen werden. Gleichwohl lassen sich ein paar Begriffe finden, die bei Konflikten, egal ob sie mündlich oder schriftlich, persönlich oder massenmedial ausgetragen werden, helfen können auf eine inklusive Gesprächshaltung umzuschalten und annehmbare Kritik zu formulieren. Sie helfen zugleich dabei in einer Diskussion die Orientierung zu behalten und den Gesprächsverlauf zu reflektieren. An dieser Stelle soll jedoch kein Abriss entsprechender Fachliteratur erfolgen. Im Folgenden präsentiere ich das, was sich bei mir nach Lektüre über und eigener Erfahrung in Gesprächsführung als Essenz herauskristallisiert hat. 

Ich betone, dass das Ziel nicht darin besteht eine wie auch immer geartete Wahrheit zu finden. Gesprächsführung hat stattdessen das Ziel zu einer Entscheidung zu kommen, die für alle Beteiligten bindend ist. Da Konflikte in sehr vielen verschiedenen Situationen auftreten können, handelt es sich dabei um einen Lösungsansatz, der eine viel allgemeinere Relevanz hat, im Folgenden aber mit Blick auf politische Diskussionen erläutert wird.


Was alle Menschen gemeinsam haben

Der Ansatzpunkt für einen Wechsel hin zu einer inklusiven Gesprächshaltung ist die Suche nach Gemeinsamkeiten. Sicherlich fällt dies schwer bei Personen, die so völlig der eigenen Weltsicht widersprechende Ansichten vertreten. Gleichwohl sollte man sich daran erinnern, dass es immer Menschen sind, die sich an einer Diskussion beteiligen. Trotz aller unüberbrückbar scheinenden Unterschiede sollte man nicht vergessen, dass wir am Ende alle irgendwie dasselbe wollen, nämlich nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen glücklich werden. Für Glück gibt es aber kein Patentrezept, sondern sehr viele verschiedene Wege. Dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt, sich selbst zu verwirklichen, wurde mit dem Übergang in die moderne Gesellschaft und der damit verbundenen Individualisierung erst richtig bewusst. Der Modernisierungsprozess führte zu einer Fülle diverser Lebensstile, die fast alle ihre Berechtigung haben, solange sie zur eigenen Verwirklichung nicht die Eliminierung aller anderen zur Voraussetzung haben.

Jeder möchte seine körperlichen und geistigen Bedürfnisse befriedigen, um ein gewisses Maß an Sicherheit zu haben. Das kann allerdings für jeden etwas anderes bedeuten, denn neben einem Sicherheitsbedürfnis hat jeder immer auch das Bedürfnis Risiken einzugehen und selbst gesteckte Herausforderungen zu bewältigen. Jeder braucht auch ein gewisses Maß an Spannung und Nervenkitzel im Leben. Da diese Bedürfnisse nach Sicherheit und Risiko über die Menschen sehr unterschiedlich verteilt sind, kann es nicht den einen selig machenden Lebensstil für alle geben. Jeder muss heute für sich selbst die Entscheidung für (s)einen Lebensstil treffen. 

In der Regel ist der eigene Lebensstil das Ergebnis von vielen kleinen bewussten und unbewussten Entscheidungen. Sich speziell die unbewussten Entscheidungen bewusst zu machen und gegebenenfalls zu ändern, ist ein Weg hin zu immer mehr persönlicher Autonomie. Danach strebt jeder in irgendeiner Art und Weise, denn niemand möchte rein triebgesteuert oder fremdbestimmt leben. Jeder hat einen berechtigten Anspruch diese Probleme für sich zu lösen. Manchen gelingt das weitestgehend allein. Andere benötigen Hilfe dazu. Fehler lassen sich dabei nicht vermeiden, sondern gehören dazu. Entgegen einem weit verbreiteten Glauben, führt Freiheit gerade nicht dazu, dass alle Menschen automatisch das Richtige tun. Freiheit gibt jedem zunächst einmal die Möglichkeit Fehler zu machen. Denn nur wer Fehler macht, kann lernen. Wenn man nicht in der Lage ist zu lernen, dann besteht Freiheit lediglich darin sich selbst zu zerstören. Denn das, was einen kurzfristig glücklich macht, kann einen langfristig ruinieren. Gute Absichten haben also nicht zwangsläufig gute Ergebnisse zur Folge. Fehler zu machen ist auch eine Form der Selbstverwirklichung und bringt unangenehme Erkenntnisse über einen selbst mit sich. Man muss sich dann halt nur entscheiden, ob man sich auf diese Weise noch einmal verwirklichen will oder nicht. Dieser Aspekt von Freiheit wird in der Diskussion über sie immer wieder vergessen. Freiheit zeigt zunächst nur wozu Menschen fähig sind, im Guten wie im Schlechten.

Menschen sind fehlbar. Sie müssen es sogar sein, denn erst dadurch sind sie in der Lage zu lernen und sich zu entwickeln. Das bedeutet auch, dass es eine perfekte Welt nicht geben kann. Man kann versuchen sie zumindest in seinem eigenen Einflussbereich zu verwirklichen und so ein Vorbild für andere zu geben. Man sollte sich aber nie der Illusion hingeben, dass eine perfekte Welt erreichbar wäre. Wir leben außerdem nicht vereinzelt. Somit betrifft unser Verhalten immer auch andere Menschen. Sofern es um Fehler geht, deren Konsequenzen andere Menschen betreffen, können diese Fehler auch Schuldgefühle auslösen – durchaus zu Recht. Diese wird man dann nur durch Lernen wieder los bzw. dem Bemühen diese Fehler nicht zu wiederholen. Die Vergangenheit kann man nicht mehr ändern, sondern nur die Zukunft. Wenn man die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen will, muss man sein eigenes Verhalten ändern.

Die Vielfalt der Lebensstile birgt also eine Menge soziales Konfliktpotential, weil die Risiken, die einige bereit sind einzugehen, die Sicherheitsbedürfnisse von anderen bedrohen. Das gilt selbstverständlich auch umgekehrt. Die Sicherheitsbedürfnisse der einen bedrohen die Risikobedürfnisse der anderen. Würde jeder auf seinem Standpunkt beharren, würden sich alle gegenseitig blockieren. Wenn man auf die Vielfalt der Lebensstile trotzdem nicht verzichten möchte, muss man sich Gedanken darüber machen, wie sich Konflikte friedlich austragen lassen. Deswegen verbietet sich heute die Frage, wie wir leben wollen, denn die muss jeder für sich selbst beantworten. Die Frage kann allenfalls lauten, wie wir trotz der Unterschiede zusammenleben können?


Eine Antwort auf diese Frage findet man, wenn man sich immer darüber bewusst ist, dass trotz der großen Unterschiede alle Menschen versuchen in ihrem Leben dieselben Probleme zu lösen, da sie durch das Leben selbst gestellt werden. Die besagten Unterschiede zeigen nur auf, dass es extrem viele Möglichkeiten gibt, diese Probleme zu lösen. Wenn man die Probleme kennt, die jemand versucht zu lösen, versteht man auch, warum jemand so handelt, wie er handelt. Problembewusstsein wird damit zu einem Ankerpunkt, um Gemeinsamkeiten zu finden. Nur dann kann es gelingen Konflikte friedlich und konstruktiv auszutragen. 


Unbedingtes Verständnis und bedingte Akzeptanz

Auch Ideologien wie Faschismus, Kommunismus oder religiöse Fundamentalismen gründen in bestimmten Vorstellungen darüber, was ein gutes Leben sei. Jeder Lebensstil bringt es mit sich, die Welt und sich selbst auf bestimmte Art und Weise zu sehen. Mit den genannten Ideologien wurde jeweils eine partikulare Weltsicht universalisiert und als einzig Richtige dargestellt. Auch das ist ein möglicher Lösungsversuch menschlicher Probleme. Gleichwohl haben sie aufgrund des ihnen zugrunde liegenden kollektivistischen Menschenbildes, das Menschen nur als Mitglieder einer Gemeinschaft und nicht als Personen betrachtet, Handlungskonsequenzen, die unter Umständen für andere Menschen tödlich sein können. 

Hier kommt nun ein wichtiger Unterschied zum Tragen. Während ich Verständnis für die Probleme habe, weil jeder Mensch von ihnen betroffen ist, kann ich jedoch nicht jede Lösung dieser Probleme akzeptieren, weil einige davon die Eliminierung aller anderen Lebensstile zur Voraussetzung haben, um sich selbst zu verwirklichen. Die besagten Ideologien versprechen ein Gefühl der Stärke oder Überlegenheit, dabei offenbart sich in der Intoleranz ihre Schwäche. Schwach ist, wer den Vergleich mit konkurrierenden Lebensstilen scheut und sie deshalb ablehnt. Stark ist nur, wer andere, kontingente Lebensstile aushalten kann. Die Grenze der Akzeptanz ist selbstverständlich da erreicht, wo ein Lebensstil zu Bedrohung für andere wird.

Trotzdem gilt es nun nicht vorschnell dem eigenen Verdrängungs- und Exklusionsverlangen nachzugeben, sondern zunächst auf dieses inakzeptable Bedrohungspotential hinzuweisen und dass diejenigen möglicherweise ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden. Faschismus, Kommunismus und religiöse Fundamentalismen werden zum Beispiel von den Anhängern gerne als friedensstiftend dargestellt. Wenn man dafür jedoch erst einen Vernichtungsfeldzug beginnen muss, werden sie ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht. Der Hinweis auf solche Widersprüche zwischen positivem Selbstbild und tatsächlicher Lebensführung, die man mit Erving Goffman als falsches Image (vgl. 1986 [1967]) bezeichnen kann, bietet dann den Ansatzpunkt für Kritik und die Veränderung dieser Einstellungen.

Identität kann also in einem Diskurs nicht einfach vernachlässigt werden. Wer nicht weiß, wer er ist, der weiß auch nicht, was er will. Um zu verstehen, warum jemand so handelt, wie er handelt, muss die persönliche Identität in Form des Image bzw. des Selbstbildes berücksichtigt werden. Ein Selbstbild ist ein Stück weit immer idealisiert und positiver als das tatsächliche Verhalten. Und jeder strebt danach mit Personen zu interagieren, die einen genauso positiv sehen, wie man selbst. Kurz gesagt, jeder strebt nach Bestätigung und Anerkennung. Das ist völlig verständlich und kann man zunächst niemandem vorwerfen. 
Problematisch wird es, wenn jemand versucht sich die erwünschte Anerkennung dadurch zu verschaffen, dass er andere Lebensstile ablehnt. Die oben beschriebenen Diskursgewohnheiten funktionieren nach dem Prinzip Anerkennung durch Ablehnung zu erlangen. Viele Menschen in Deutschland müssten diesbezüglich erst eine realistischere Sicht auf sich selbst gewinnen, um zu erkennen, wie weit ihr Verhalten von ihrem Selbstbild entfernt ist. 

Das Image des Gesprächspartners ist der Ansatzpunkt, um seinen Tunnelblick aufzubrechen, der den subjektiven Eindruck unnötiger Zwangsläufigkeit vermittelt und radikale Lösungen erst akzeptabel erscheinen lässt. Dies gelingt, indem man alternative Lösungsmöglichkeiten aufzeigt, um die gewünschte Anerkennung zu erhalten, ohne andere Menschen zur verdrängen. Dafür sollte man aber in der Lage sein auch mal einen Blick über den Tellerrand des eigenen Lebensstils zu wagen, denn die vorgeschlagene Alternative sollte nicht nur der eigene Lebensstil sein. Das könnte leicht als Versuch wahrgenommen werden, dem anderen den eigenen Lebensstil aufzudrängen. 

Entscheidend ist, während jeder im Hinblick auf die Probleme, von denen jemand betroffen ist, mit unbedingtem Verständnis rechnen kann, kann er trotzdem nicht erwarten, dass alle seine Lösungsversuche ebenso unbedingt akzeptiert werden. Problemverständnis schafft eine gemeinsame Gesprächsgrundlage. Die Unterschiede werden dagegen bei der Diskussion über die möglichen Lösungen und deren Konsequenzen sichtbar. Gleichwohl bleibt man in den meisten Fällen über das Problem und die möglichen Lösungen, die diese Probleme ebenso gut lösen können, im Gespräch. 

Man sollte sich allerdings nicht der Illusion hingeben, dass man jemanden nur durch eine rein rationale Argumentation überzeugen kann. Zur Entwicklung einer Veränderungsbereitschaft gehört nicht nur die verstandesmäßige Einsicht, sondern auch eine emotionale Entwicklung, die in der Regel nicht so schnell voranschreitet, obwohl man die Veränderungsnotwendigkeit verstandesmäßig vielleicht längst begriffen hat. Bestimmte Erfahrungen muss man erst selbst machen, bevor man auch emotional bereit für eine Veränderung ist. Man braucht daher eine Menge Geduld, denn mit einem Gespräch allein wird es nicht getan sein.


Sach- und Beziehungsebene beachten

Während der Diskussion sollte man allerdings eine Sache beachten. Das Aufzeigen von Widersprüchen zwischen Selbstbild und tatsächlicher Lebensführung wird von vielen schnell als Beleidigung aufgefasst, denn damit macht man die Kritisierten auf die blinden Flecken ihrer Selbstwahrnehmung aufmerksam. Entsprechend sensibel muss man diese zur Sprache bringen. Der Hinweis auf so einen Widerspruch sollte man daher gar nicht erst in eine persönliche Beleidigung verpacken, wie es heutzutage leider zu oft geschieht. Stattdessen sollte man sie so sachlich und neutral wie nur möglich formulieren ohne die kritisierte Person als Ganze zu verurteilen. Deswegen gilt, dass man immer nur Handlungen kritisiert, aber nicht Personen. Dies erfordert viel sprachliche Differenzierung, um ausreichend präzise kritisieren zu können. Die Verwendung von massenmedial verbreiteten Schlagworten wie »postfaktisch« wird diesem Differenzierungserfordernis sicherlich nicht gerecht.

Ironie, Sarkasmus, Zynismus und Moralisieren sind dafür ebenfalls kontraproduktiv, denn das sind lediglich abwertende Kommentare zur gemeinsamen Beziehung, aber keine Argumente in der Sache. Auch die besten Absichten rechtfertigen solches Verhalten nicht. Im Gegenteil, es diskreditiert diese Absichten und fördert beim Gesprächspartner eine zynische Einstellung zu ihnen. Man sollte es daher unterlassen gesinnungsethisch zu argumentieren. Wer nur für seine guten Absichten nach Anerkennung sucht, aber nichts von den negativen Handlungsfolgen seiner guten Absichten wissen will, macht sich ebenfalls angreifbar.

Umso wichtiger ist es immer beide Aspekte eines Diskussionsbeitrags, also was in der Sache und was über die Beziehung mitgeteilt wird, im Auge zu behalten. Die Form der Mitteilung verrät sehr viel über den Gesprächspartner und kann für das verhandelte Thema durchaus relevant sein. Das gilt natürlich für alle Gesprächsteilnehmer, inklusive man selbst. Man sollte daher zu aller erst sein eigenes Verhalten reflektieren und darauf achten, dass niemand einem etwas vorwerfen kann oder sich zumindest darüber bewusst sein, was andere an einem selbst kritisieren könnten. Da niemand perfekt ist, sollte man auf mögliche Vorwürfe und Kritik vorbereitet sein. Das heißt aber nicht, sich darauf auszuruhen, nicht perfekt sein zu können, und deswegen jede Kritik abprallen zu lassen. Man sollte Kritik ernst nehmen, ansonsten kann man schwerlich erwarten, dass andere die eigene Kritik ernst nehmen. Und selbst, wenn es zu persönlichen Angriffen kommt, sollte man sie nicht persönlich nehmen. Ob man sich beleidigen lässt, entscheidet man selbst. Andernfalls wird man leicht zum Spielball des Gesprächspartners, der einen mit immer neuen Provokationen aus der Fassung bringen kann. 

Ich nenne dieses Vorgehen die strenge Herangehensweise. Provozierendes Verhalten der Gesprächspartner fällt dann in öffentlichen Diskussionen umso mehr auf, wenn man selbst darauf verzichtet. Es gibt auch noch einen weniger strengen Ansatz, der all das einschließt, was in der strengen Variante unterlassen werden soll. Aber auch dann sollten die genannten Stilmittel nur sparsam eingesetzt werden, um den Gesprächspartner dazu zu bringen, sich wieder auf die Sachebene zu konzentrieren und nicht persönlich zu werden. Manchmal ist es leider notwendig sich auf die unangemessene Tonlage des Gesprächspartners einzulassen, um ihm sein Verhalten zurück zu spiegeln. Bei manchen Personen kann man sich nur so Respekt verschaffen. Man sollte aber auch deutlich machen, dass man das sofort unterlässt, sobald der Gesprächspartner es unterlässt und sich auf die Sachebene beschränkt. Für diese weniger strenge Herangehensweise benötigt man allerdings sehr viel Erfahrung und eine vertiefte Kenntnis der Positionen des Gesprächspartners, um eine drohende Eskalation wieder abwenden zu können. Für Anfänger ist sie daher nicht zu empfehlen.


Überzeugen oder Verändern?

Reflektiert man ein Gespräch mit den Unterscheidungen Problem/Lösung, unbedingtes Verständnis/bedingte Akzeptanz, Image/falsches Image und Sachebene/Beziehungsebene hat man eine gute Grundlage, um Gesprächstechniken zu entwickeln, mit denen man auch bei schwierigen Gesprächspartnern Gehör findet. Sie bieten aber nur einen Einstieg. Zusätzlich empfehlen sich natürlich die intensive Lektüre entsprechender Fachliteratur und viel Training. Eine Garantie, dass sich jeder überzeugen lässt, gibt es jedoch selbst mit noch so viel Erfahrung nicht. Man wird die Erfahrung machen, dass sich nicht jeder überzeugen lässt, denn nicht jeder ist bereit Selbstbild und tatsächliches Verhalten aneinander anzupassen. Wer schon nicht bereit ist sich an sein eigenes Selbstbild als Maßstab für sein Handeln zu binden, der wird sich erst recht nicht an Übereinkünfte gebunden fühlen, an denen andere Personen beteiligt sind.

Man sollte daher auch erkennen, wenn man nicht mehr weiterkommt, um nicht selbst noch eine unnötige Eskalation zu provozieren. In zwischenmenschlichen Beziehungen gibt es dann die Möglichkeit den Personen aus dem Weg zu gehen. Bei öffentlichen Debatten über politische Themen ist das nicht ganz so einfach möglich. Da diese Themen alle angehen, kann man das Gespräch nicht einfach abbrechen, denn das nährt nur Ressentiments und kann auf lange Sicht zu einer gewaltsamen Eskalation führen. Genau das gilt es zu vermeiden. Politiker und Aktivisten, die eine weitere Polarisierung fördern, 
indem sie lediglich die Ressentiments und Vorurteile ihrer Anhängerschaft bedienen, und damit die Kompromissfindung immer schwieriger machen, provozieren diese Eskalation. 

Andererseits sollte man auch erkennen, wenn es keine Fortschritte mehr gibt. Gespräche nur um des Gesprächeführens willen weiter zu führen, um jegliche Verschärfung des Konflikts zu vermeiden, ist ebenso ein ungeeigneter Weg. Dann könnte es sein, dass der Gesprächspartner einen nur noch hin hält und genau das sein Ziel ist. Zu hohe Konfliktvermeidung ist ebenso ungeeignet zu einer Lösung zu kommen wie einen Konflikt eskalieren zu lassen. Wann diese Punkte jeweils erreicht sind, muss sorgfältig abgewogen werden. Hier sind dann Geduld, Reflexion des Diskussionsverlaufs und argumentative Kreativität gefragt. Politik besteht heute in der Kunst Konflikte sowohl zu schüren als auch darin sie wieder beilegen zu können. 

Man sollte sich aber immer darüber bewusst sein, dass es eigentlich nicht darum geht, jemanden zu überzeugen. Worum es geht, ich schrieb es bereits, sind Einstellungs- und Verhaltensänderungen anzuregen. Dafür sollte man sich darüber im Klaren sein, dass man keinen Menschen von außen verändern kann. Veränderungen kommen nur aus jedem selbst heraus. Beobachtet und reflektiert man einen Gesprächsverlauf anhand der genannten Unterscheidungen, kann man eine Gesprächstechnik entwickeln, mit der man Impulse setzt, die die Wahrscheinlichkeit für solche Verhaltensänderungen erhöht. Dafür ist entscheidend, dass man annehmbare Alternativen anbieten kann. Dafür muss man seinen Gesprächspartner wiederum kennen. Um bei jemand anderem Einstellungs- und Verhaltensänderungen anzuregen, ist es daher unausweichlich sich zunächst selbst zu ändern. Soll ein Konflikt gelöst werden, müssen sich dann
 in der Regel beide Seiten ändern, denn beide haben ihren Teil dazu beigetragen, dass der Konflikt überhaupt entstehen konnte.


Minderheit gegen Mehrheit?

Im Hinblick auf politische Diskussionen empfiehlt es sich darüber hinaus nicht mehr in den Kategorien »Mehrheit« und »Minderheit« zu denken. Die moderne Gesellschaft ist so stark differenziert, dass es eine »Mehrheitsgesellschaft« gar nicht geben kann. Der Eindruck, dass es noch eine Mehrheit gebe, kann nur durch äußerst grobschlächtige Kategorisierungen entstehen, die jedoch der Komplexität menschlichen Verhaltens nicht ansatzweise gerecht werden. Auf diese Weise fördert man nur vorurteilsbeladene Klischees aber keine realistische Wahrnehmung. Man ist nicht nur Mann oder Frau, Deutscher oder Ausländer, heterosexuell oder homosexuell etc. Durch seinen Beruf ist man ebenso einer bestimmten Gruppe zurechenbar wie durch die Hobbies, denen man in seiner Freizeit nachgeht. Keine von diesen Gruppen lässt sich im Verhältnis zu anderen Gruppen als Mehrheit beschreiben. Dadurch kann es nur noch Minderheiten geben und man würde in der Regel mehreren dieser Minderheiten angehören. Die verschiedenen Aktivitäten, denen man nachgeht, und die einen zu einer bestimmten Gruppe zurechenbar machen, sind alles Aspekte der Persönlichkeit. Erst die Kombination dieser Aspekte macht jemanden ein Stück weit einzigartig. Im Hinblick auf die Individualisierung hatte bereits Ayn Rand die letzte Konsequenz dieser Entwicklung erkannt: »Die kleinste Minderheit auf der Erde ist das Individuum.« 


Während man bei Extremisten und Ideologen wahrscheinlich nicht viel erreichen wird, gilt es weiterhin mit ihren weniger überzeugten Anhänger und Mitläufer im Gespräch zu bleiben. Gerade im Hinblick auf diese Gruppe sind ein Generalverdacht und Vorverurteilungen kontraproduktiv, weil dadurch auch der Diskurs mit denen verweigert wird, die man noch erreichen könnte. Wer glaubt, er oder sie hätte es nur noch mit Extremisten und Ideologen zu tun, macht eine sehr kleine Minderheit zu einer überwältigenden Mehrheit. Damit liefert man sich nur eine sehr bequeme Ausrede, nicht für die eigene Position werben zu müssen. Auf diese Weise überlässt man das Feld Personen, die in der Auswahl ihrer Gesprächspartner weniger Vorbehalte haben. Wer den Konflikt scheut und nicht für das wirbt, was man für richtig hält, ist sich letztlich seiner eigenen Sache nicht sicher.

Weil es nur noch Minderheiten gibt, wird der Kooperationsgedanke immer wichtiger, ohne dem anderen seinen eigenen Lebensstil auf zu zwingen. Nur so kann man heute noch vorübergehend Mehrheiten gewinnen. Wer sich nicht um Kooperationspartner bemüht, wird immer alleine da stehen. Kooperation fängt bereits dort an, wo man Konflikte nicht eskalieren lässt, sondern trotz verschiedener Standpunkte nicht zu Feinden wird und weiter versucht an einer Lösung zu arbeiten. Der Kampf für Minderheitenrechte wird heute leider nur zu oft als Vorwand benutzt, um verschiedene Minderheiten gegeneinander auszuspielen. Auf diese Weise gelingt es lediglich auf politischer Feindschaft begründete Gemeinschaften zu bilden, die keine Individuen, sondern nur Mitglieder kennen. So ermächtigt man sich selbst zur tonangebenden Mehrheit, obwohl man es eigentlich gar nicht ist. Unter der Voraussetzung, dass es nur noch Minderheiten gibt, ist das ein sicherer Weg sich heute gesellschaftlich zu isolieren. 


Analyse statt Moral

All die genannten Aspekte sprechen dafür Diskussionen und die Diskussion darüber, wie ein Diskurs geführt werden kann, nicht mit moralischen und normativen Begriffen zu führen. Normen sind kontrafaktische Erwartungen, die auch bei Enttäuschung aufrechterhalten werden (vgl. Luhmann 1997, S. 638). Mit anderen Worten, Normen verhindern Lernprozesse. Sie verführen lediglich dazu voreilige, aber möglicherweise ungerechtfertigte Erwartungen über einen idealen Diskurs mit in eine Diskussion hineinzutragen. Vermutlich verbindet jeder mit einem idealen Diskurs die Erwartung, dass seine eigene Position vollständig bestätigt wird; eine Erwartung, die sich kaum erfüllen wird. Es bringt also nichts, an Normen und Werten festzuhalten, die sich nicht bewährt haben und im Hinblick auf mögliche Gesprächspartner lediglich exklusiv bzw. exkludierend sind. 

Mit der eingangs geäußerten Moralkritik möchte ich nicht sagen, dass es sinnlos ist für moralische Werte zu kämpfen. Bevor man das tut, sollte man aber wissen, wie sich die beanspruchten Werte im eigenen Handeln konsistent realisieren lassen. Diese Werte sollen ja gelebt und nicht nur behauptet werden. Das ist immer ein Lernprozess. Deswegen ist es so wichtig, zuerst sein eigenes Verhalten zu reflektieren. Andernfalls argumentiert man nur gesinnungsethisch und klagt bei den Gesprächspartnern Werte ein, denen man selbst nicht gerecht wird. Je länger man die Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit im eigenen Verhalten ignoriert, desto mehr wächst sich eine Gesinnungsethik zur Ideologie aus. Dann wäre man nicht besser als die ausgeschlossenen Personen und macht sich unglaubwürdig. Ein Diskurs wäre dann nicht mehr möglich. Ein bisschen mehr Bescheidenheit in der Anspruchshaltung wäre daher für einen gelingenden Diskurs angeraten.

Die von mir vorgestellten Begriffe sind dagegen analytisch. Sie geben zwar eine Zielorientierung vor, die man dazu nutzen kann den Gesprächsverlauf zu reflektieren. Sie implizieren aber keinerlei unnötige Erwartungen an das Verhalten der Gesprächsteilnehmer. Sie sind, obgleich sie helfen sollen zu einem Ergebnis zu kommen, offen was den Weg dahin angeht. Zugleich erliegt man nicht der Versuchung ein Ergebnis erzwingen zu wollen. Während mit normativen Begriffen versucht wird durch Exklusion inakzeptabler Gesprächspartner die akzeptablen zu inkludieren, gelingt mit analytischen Begriffen die Inklusion aller möglichen Gesprächspartner. Im Idealfall werden nur die inakzeptablen Lösungen und erst im schlimmsten Fall inakzeptable Gesprächspartner exkludiert. 

Ja, auch der vorgestellt Ansatz schließt Exklusion nicht aus. Der Unterschied besteht darin, dass man nicht bereits von Vornherein Personen ausschließt, sondern, wenn es sein muss, erst hinterher. In politischen Debatten geht es schließlich nicht darum zu einem Konsens zu kommen, sondern kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen. Diese Entscheidungen werden vielleicht nicht von allen als richtig empfunden. Sie sollten aber zumindest akzeptiert werden, solange man nicht die Möglichkeit hat sie demokratisch legitimiert zu ändern. Soviel Selbstdisziplin fordert eine Demokratie ihren Bürgern ab, denn Meinungsverschiedenheiten sind für eine Demokratie nicht pathologisch, sondern konstitutiv. Die Frage ist immer nur, wie werden sie ausgetragen? Wer lediglich versucht abweichende Meinungen vom Diskurs auszuschließen, statt sich mit ihnen auseinanderzusetzen, handelt selbst nicht demokratisch.

Der von mir empfohlene Wechsel von einer exklusiven zu einer inklusiven Gesprächshaltung beginnt also mit dem Wechsel von normativen zu analytischen Begriffen. Dadurch kann es gelingen zunächst einmal seine Gesprächspartner in einem anderen Licht zu sehen ohne sie bereits vorzuverurteilen. Das wiederum fördert die eigene Gesprächsbereitschaft. Denn wer nicht bereit ist mit anderen zu reden, wird sie nicht verstehen können und wird ihnen erst recht keine akzeptablen Lösungen anbieten können. Dann wird man gar nichts erreichen. Durch den Verzicht auf Moral gelangt man dann möglicherweise auch zu einem höheren Grad der Moralität im Handeln, mit dem man Werten, wie Menschlichkeit, Freiheit und Offenheit, weit mehr gerecht wird, als wenn man lediglich versucht sich mit ihnen zu schmücken, ohne zu wissen, wie sie sich im Handeln verwirklichen lassen.





Literatur
Goffman, Erving (1986 [1967]): Techniken der Imagepflege. In ders. (Hrsg.): Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. S. 10 – 53 
Latour, Bruno (2007): Das Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Diaphanes Zürich
Luhmann, Niklas (1990): Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Rede anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989. In: Luhmann, Niklas/ Robert Spaemann: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. S. 7 – 46
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Scheler, Max (2004 [1912]): Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. 2. Auflage Klostermann Frankfurt am Main

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