»Wenn man verstehen will, worum es in der Soziologie geht, dann muß man in der Lage sein, in Gedanken sich selbst gegenüberzutreten und seiner selbst als eines Menschen unter anderen gewahr zu werden. Denn die Soziologie beschäftigt sich mit den Problemen der „Gesellschaft“, und zur Gesellschaft gehört auch jeder, der über die Gesellschaft nachdenkt und sie erforscht.«
Norbert Elias*
Die Fähigkeit, über die
Soziologen nach Elias verfügen sollten, ist die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Sich selbst als jemand
anderes gegenüber zu treten, bedeutet die Voraussetzung zu schaffen, um gewahr
zu werden, welchen Eindruck das eigene Verhalten auf andere Menschen macht. Leider
ist diese Fähigkeit unter Soziologen, speziell denen, die sich einer Kritischen
Soziologie – egal welcher Schule – zurechnen, nicht sehr weit verbreitet.
Kritische Theorien bilden zumeist eine gefährliche Kombination von Modellen,
die Elias mythisch-magisch und naturwissenschaftlich bezeichnet
(vgl. 2014 [1970], S. 16f.). Das mythisch-magische Modell zeichnet sich durch
eine naiv-egozentrische Beobachtungsweise aus, das naturwissenschaftlich-mechanistische
Modell durch die Beobachtung von Kausalbeziehungen. Beiden Beobachtungsformen
ist eine zu starke Reduktion von sozialen, biologischen, chemischen oder
physikalischen Sachverhalten auf unidirektionale Wirkungszusammenhänge gemein -
im sozialen Bereich durch Reduktion auf Subjekt-Objekt-Beziehungen, in der
Natur durch mechanische Ursache-Wirkungsbeziehungen.
Diese Beobachtungsschemata
konstruieren einseitige bzw. asymmetrische Beziehungen, die man mit
Michel Serres auch als parasitär
bezeichnen kann (vgl. 1987 [1980]). Obgleich sich auch empirisch solche
parasitären Beziehungen beobachten lassen, sind nicht alle natürlichen und sozialen Beziehungen parasitäre Beziehungen.
Leider wurde dieses Beziehungsmuster unter dem Einfluss mythisch-magischer und
naturwissenschaftlich-mechanistischer Modelle soweit generalisiert, dass
wechselseitige, symmetrische oder rekursive Beziehungen nicht mehr in den Blick
kommen. Als Beispiel für eine solche Kombination mythisch-magischer Beobachtungen
sozialer Beziehungen mit der wissenschaftlich-mechanistischen Beobachtungsweise
kann man die verschiedenen Machtkonzepte kritischer Theorien betrachten. In
mechanistischer Art reduzieren sie soziale Beziehungen auf einseitige Beziehungen,
in denen eine Person die Macht ausübt und die andere Person muss sich fügen. Gegenstand
der Kritik ist dann, dass sich der Machtunterlegene unfreiwillig fügen muss,
aber nicht die Machtausübung selbst. Die Kritik erfolgt also aus der Position
des Machtunterlegenen. Anstatt Macht als einen Sachverhalt zu beobachten, der
aus der wechselseitigen Beziehung mindestens zweier Menschen zueinander
verständlich wird, gerinnt Macht aus der egozentrischen Perspektive des
Machtunterlegenen in mythisch-magisch Art zu einem Sachverhalt auf den Menschen
keinerlei Einflussmöglichkeiten haben.
Diese Form der Theoriebildung
entspringt der Unfähigkeit zur Selbstreflexion, denn würden die Vertreter
solcher Theorien sich selbst gegenübertreten, dann würden sie gewahr werden, dass sie selbst
in Machtverhältnisse verstrickt sind und diese, obwohl sie sie eigentlich überwinden
wollen, durch ihre Form der Kritik stabilisieren. Das liegt daran, dass sich die Perspektiven von Machthaber und Machtunterlegenen komplementär ergänzen. An kritischen Ansätzen ist zumeist sehr auffällig, dass
sie ein sehr starkes Problembewusstsein haben und die Probleme in
beeindruckender Klarheit beschreiben können. Die angebotenen Lösungen lösen
jedoch nicht die kritisierten Probleme, sondern machen sie zumeist noch
schlimmer. Durch das komplementäre Verhältnis der Perspektiven, wird durch die Kritik nur die Position des Machthabers bestätigt. Alle angebotenen Lösungen des kritisierten Problems laufen darauf hinaus, dass Machthaber und Machtunterlegene die Positionen wechseln oder alles so bleibt wie es ist, weil man sowieso keine Möglichkeiten sieht Veränderungen durchzusetzen. Die Lösungsvorschläge entspringen nämlich selbst den mythisch-magischen Phantasien
über die Funktionsweise sozialer Beziehungen, die sich in der sozialen
Wirklichkeit wiederum als parasitäre Beziehungen realisieren und bestehende
Konflikte weiter verstärken. Die Verantwortung für die Folgen der eigenen
Problemanalysen in Form der daraus abgeleiteten Lösungsvorschläge wird von den engagierten Kritikern jedoch zurückgewiesen.
Daran zeigt sich das Fehlen der
Fähigkeit zur Selbstreflexion und die Abwehr der Erkenntnis, dass man selbst in
die Beziehungen verstrickt ist, die eigentlich kritisiert werden sollen.
Effektive Kritik fängt jedoch erst da an, wo die einem mythisch-mechanistischen
Weltbild entspringende Kritik an ihre Grenzen stößt. Bevor die realen
Verhältnisse kritisiert werden können, müssen zunächst die Formen der
Beobachtung und Beschreibung dieser Verhältnisse einer kritischen Prüfung unterzogen
werden. Die schlichte Negation des mythisch-mechanistischen Weltbildes der
Machthaber reicht nicht aus, denn sie erkennt nicht die Gemeinsamkeiten
zwischen Kritik und Kritisiertem. Es ist zu wenig den herrschenden Mythos der Machthaber durch den der Machtunterlegenen zu ersetzen, solange dieser ebenfalls einer egozentrischen Perspektive entspringt und damit nur die Weltsicht der Machthaber spiegelverkehrt reproduziert. Dieser ist dann genauso realitätsverzerrend wie der herrschende.
Neben der Analyse der
zwischenmenschlichen Beziehungen hat Elias eine weitere Aufgabe der Soziologie
in der Analyse, Kritik und Veränderung solcher mythisch-magischen bzw. egozentrischen
oder parasitären Beobachtungsformen zwischenmenschlicher Beziehungen gesehen. Zwischenmenschliche Beziehungen und die Formen ihrer Beobachtung lassen sich
nicht unabhängig voneinander denken, denn beide beeinflussen sich
wechselseitig, d. h. sie verändern sich wechselseitig. Trotzdem besteht bis
heute eine starke Tendenz innerhalb der Soziologie den Einfluss der eigenen
Beschreibungen der Gesellschaft auf die Gesellschaft zu ignorieren. Diese Tendenz wird
durch die mythisch-mechanistische Beobachtungsweise sozialer Beziehungen noch
verstärkt, welche letztendlich in einem Menschenbild kulminiert, das Menschen
nur noch als völlig fremdbestimmte Machtobjekte beschreiben kann. Es handelt
sich dabei zugleich um eine entfremdete
Beobachtungsweise, denn die Beobachterposition, die eine solche Beobachtung
der Menschen erlaubt, ist die von Personen, die die Funktionsweise
zwischenmenschlicher Beziehungen nicht verstehen, die gleichsam von außen zuschauen müssen und die auch
keine Möglichkeiten für sich sehen, wie sie sich selbst in zwischenmenschliche
Beziehungen einbringen können. Diese Ohnmacht soll durch Theorien von
übermächtigen und unerreichbaren Gebilden, wie z. B. Macht, legitimiert
werden, ohne zu registrieren, dass man bereits selbst dabei ist solch ein übermächtiges
Gebilde zu konstruieren. Unbedingte Ohnmacht schafft jedoch das Bedürfnis nach
unbegrenzter Macht. Auch wenn dieser unbedingte Machtwille immer anderen zu
geschrieben wird, verrät dies zuerst einmal sehr viel über die eigenen
politischen – und nicht wissenschaftlichen! – Ambitionen solcher
Theorieunternehmen. Utopien werden häufig zur Legitimation solcher pseudo-emanzipatorischen
Projekte benutzt, um die Menschen mit ihren naiven Hoffnungen zu ködern. Doch sie entspringen auch einem mythisch-magischem
Verständnis zwischenmenschlicher Beziehungen. Auch das zeugt von der fehlenden
Fähigkeit zur Selbstreflexion vieler Soziologen. Aufklärung geht anders.
Elias‘ Bestimmung der Aufgaben
der Soziologie hat bis heute ihre Berechtigung. Er sah Soziologen in der Rolle
von Mythenjägern (vgl. Elias 2014
[1979], S. 57ff.) Doch als Voraussetzung, um diesen Aufgaben gerecht werden zu
können, benötigt man die Fähigkeit sich selbst durch die Augen von jemand
anderes zu sehen. Dann kann man verstehen, welchen Eindruck das eigene
Verhalten auf andere machen kann und warum man möglicherweise nicht die Aufmerksamkeit erhält, die man sich eigentlich wünscht. Nur unter dieser Voraussetzung ist man auch
in der Lage die Gefahren und Risiken zu erkennen, die diese Aufgaben mit sich
bringen. Ohne ein Bewusstsein für die möglichen Auswirkungen des eigenen
Verhaltens würden sich Soziologen nur in die Konflikte zwischen verschiedenen mythisch-magischen
Weltbildern einmischen und Partei für die vermeintlich unterlegene Seite
ergreifen. Sie würden nur Öl ins Feuer gießen und den bestehenden Konflikt
aufwerten. Kritische Soziologen betätigen sich bis heute nur als Konfliktaufwerter
(vgl. Luhmann 1984, S. 536) und unterstützen damit fast zwangsläufig die
Bildung mythisch-mechanistischer Weltbilder, die die Wahrnehmung
zwischenmenschlicher Beziehungen durch ihre egozentrische Perspektive trüben
anstatt sie zu erhellen. Bevor sich Soziologen heute auf die Jagd nach den in der
Gesellschaft verbreiteten Mythen machen, müssen sie zunächst die soziologischen
Mythen jagen – von denen es inzwischen eine ganze Menge gibt -, um sich selbst von
egozentrischen und mythisch-magischen Beobachtungsverzerrungen zu befreien. Ansonsten
wird es nicht gelingen einen unvoreingenommen Blick auf zwischenmenschliche
Beziehungen zu werfen. Und ebenso wenig wird es gelingen Lösungen für Konflikte,
die nicht eine gesellschaftliche Gruppe einseitig bevorzugen und gerade auf
diese Weise die sozialen Konfliktherde weiter schwelen lassen, zu finden oder auch nur bestehende Lösungen als solche zu erkennen.
*2014 [1970], S. 11
Literatur
Elias, Norbert (2014 [1970]): Was ist Soziologie? 12. Auflage Beltz
Juventa Weinheim/Basel
Luhmann, Niklas (1984):
Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp Verlag Frankfurt
am Main
Serres, Michel (1987 [1980]): Der Parasit. Suhrkamp Verlag
Frankfurt am Main
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