Im Jahr 2016 wurde das postfaktische Zeitalter ausgerufen. Da
»postfaktisch« in politischen Debatten vor allem als Kampfbegriff dient, ist es
sehr zweifelhaft, ob damit eine treffende Gegenwartsdiagnose gestellt wurde. An
der Beobachtung, dass sich viele Menschen heute stärker auf ihre Gefühle
verlassen als auf die Fakten, offenbart sich die Aufklärung möglicherweise
selbst als Mythos. Das betrifft zumindest die Vorstellungen von Aufklärung,
Vernunft und Wahrheit, die unter Politikern, Intellektuellen und vielen Journalisten geteilt werden. Maßen sie sich doch
an, die Aufgabe der Wissenschaft und der Öffentlichkeit an sich zu reißen und
die offizielle Sicht der Regierung als einzig gültige Wahrheit auszugeben. Wie
man allerdings auf die Idee kommen kann, dass ausgerechnet in der Kommunikation
zwischen Politikern und Bürgern die reine Vernunft herrschen würde, bleibt nach
den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts schleierhaft. Man darf dies wohl eher als
Hinweis lesen, wie mangelhaft einige Politiker über politische Prozesse
aufgeklärt sind. Politische Kommunikation hat nicht Wahrheitsfindung zum Ziel, sondern die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen. Verlässliche Informationen sind dafür selbstverständlich äußerst wünschenswert. Notwendig sind sie jedoch nicht. Das hat die Geschichte oft genug gezeigt.
Doch trotz aller politischen Verzerrungen, wird mit dem Begriff
»postfaktisch« auf ein ernstzunehmendes Problem aufmerksam gemacht. Ob sich viele Menschen tatsächlich
zunehmend mehr auf ihre Gefühle verlassen, sei einmal dahin gestellt. Trotzdem kann
man nicht ignorieren, dass man es in den gegenwärtigen politischen Debatten zum
Teil mit Personen zu tun hat, die sich nicht mehr durch Argumente überzeugen
lassen. Unter dieser Voraussetzung ist es nur noch schwer möglich einen Diskurs
zu führen und zu kollektiv bindenden Entscheidungen zu kommen. Umso dringlicher wird die Frage, wie
sich heute noch ein Diskurs führen lässt?