Niklas Luhmann beschreibt die Problemstellung, an der sich
Liebe als autonome Kommunikationsform auskatalysiert, als »Alter erlebt und Ego
handelt« (vgl. 1982, S. 26f., FN 9). Das bedeutet, eine beobachtete
Person (Alter) teilt etwas über ihr Erleben mit und diese Information wird von
der beobachtenden Person (Ego) dazu genutzt ihr Handeln daran auszurichten. Das
kann, muss aber nicht, in derselben Situation geschehen. Daran entzündete sich
bei mir vor Kurzem folgender Gedankengang:
Die Verlockung der Liebe – nicht der körperlichen, hier ist also nicht von Sex die Rede! – besteht darin, durch die wechselseitige Vorwegnahme des Erlebens und Handelns des Partners sich gegenseitig handlungsunfähig zu machen. Da der Partner bereits weiß, was man tun möchte, kommt er mit seinem Handeln dem eigenen Handeln zuvor. Man braucht also nicht mehr selbst zu handeln, weil dies der Partner bereits vorausschauend tut. Die Liebenden können sich auf diese Weise gegenseitig ihrer Handlungsfreiheiten berauben. Durch die Liebe des Partners wird man zu einem Objekt, einem Ding gemacht. Diesen Vorgang beschreibt Ronald D. Laing als Depersonalisierung oder Petrifikation (vgl. 1972, S. 18ff.). Das ist zwar ein völlig idealisiertes Verständnis von Liebe. Es hilft aber zu verstehen, warum sich viele Liebespaare gleichsam wortlos verstehen. Die Liebenden kennen sich gegenseitig so gut, dass sie sich bereits denken können, was der Partner über einen bestimmten Sachverhalt denken könnte.
Man kann dieses Gedankenexperiment noch weiter treiben. Reden ist eine Form von Handeln. Fokussiert man das Gedankenexperiment nur auf das Reden bzw. Sprechen, dann wäre Liebe eine Form sich gegenseitig zum Schweigen zu bringen. Dabei gibt es allerdings einen Haken. Um sich zu vergewissern, dass dieses Schweigen immer noch berechtigt ist, muss man miteinander reden. Die Kunst des Liebens besteht also darin miteinander zu reden, obwohl man schweigen könnte. Es geht mit anderen Worten darum, Unterschiede zu erzeugen, die keine Unterschiede machen. Gerade durch die Abweichungen vom Erwartbaren wird die Liebeserwartung bestätigt. Nun versteht man, warum Liebe verrückt machen kann. Es geht darum, mit einer Paradoxie umzugehen bzw. diese zu entfalten. Dadurch wird diese Paradoxie zur Quelle einer unendlichen Vielfalt von Möglichkeiten sich gegenseitig der Liebe des anderen zu versichern und zugleich der Ausweg, um der Petrifikation zu entkommen. Es geht darum in den Augen des Partners als Person in Erscheinung zu treten und von ihm als solche bestätigt zu werden, und eben nicht als ein totes Ding.
Wenn man das verstanden hat, versteht man auch, warum jede Liebesbeziehung irgendwann an den Punkt kommt, wo beide Partner das Bedürfnis bekommen neuen Schwung in ihre Beziehung zu bringen. Irgendwann kennt man den Partner so gut, dass Langeweile aufkommt. Das schlimmste, was einer Beziehung passieren kann, ist, wenn sich beide Partner irgendwann gegenseitig langweilen. Liebe kann sich quasi selbst ersticken, wenn nichts Neues passiert. Deswegen muss das Feuer immer wieder angefacht werden, weil der Partner ansonsten irgendwann so berechenbar wird wie ein Automat. Es steigt die Versuchung den Partner immer mehr wie ein Ding zu behandeln und ihn oder sie irgendwann wie ein Spielzeug gelangweilt beiseite zu legen. Eine Beziehung kann man nur am Leben erhalten, wenn man dieses dead end vermeidet. Dies gelingt natürlich nicht nur durch Reden, sondern durch jegliche Form kommunikativ Unterschiede zu erzeugen, die keine Unterschiede machen. Der Kreativität und Fantasie sind im Prinzip keine Grenzen gesetzt. Die einzige Grenze setzt die Fantasie des Partners. Solange sich aber beide die Möglichkeit geben am anderen zu wachsen, entsteht eine gemeinsame Welt, die sich durch den beständigen Bewegungszwang, der sich aus der Petrifikationsgefahr ergibt, immer weiter entwickelt.
In diesem Problemkontext lässt sich dann unter anderem die gesellschaftliche Funktion von Romanen wie „Shades Of Grey“ verstehen. Eva Illouz hält die Roman-Triologie für eine Art Beziehungsratgeber (vgl. 2013, S. 71). Ihrer Interpretation kann ich mich teilweise anschließen. Durch die Lektüre von „Shades Of Grey“ kann man sich Anregungen holen, wie man das Sexleben in einer Beziehung wieder aufregender gestalten kann. So weist Illouz darauf hin, dass nach dem Erscheinen der Roman-Triologie die Absatzzahlen von Sexspielzeugen anstiegen, die im Roman verwendet wurden (vgl. 2013, S. 72). Ich würde allerdings nicht soweit wie sie gehen und „Shades Of Grey“ als eine Art Selbsthilfe-Ratgeber für die Identitätspolitik in einer Beziehung zu interpretieren. Romane sind primär Unterhaltungsmedien, die vordergründig keinen Erziehungsanspruch haben. Nichts desto trotz kann es ein Effekt der Lektüre sein, dass man durch die Lektüre auch etwas lernt, was man im eigenen Leben anwenden kann. In diesem Sinne ist es kein Ratgeber, weil nicht explizit Ratschläge gegeben werden. Der Roman ist zunächst nur ein Kommunikationsangebot, von dem man sich irritieren lassen kann oder auch nicht. Einige dieser Irritationen bzw. Effekte können dann auch als Lernen beschrieben werden, weil man Lösungsstrategien für ein Problem vorgeführt bekommt, von dem man auch selbst betroffen ist.
Mit Blick auf „Shades Of Grey“ sind diese Lösungen die Varianten, wie man den Sex anders gestalten kann. Darüber hinaus sieht Illouz in BDSM „eine Reihe von symbolischen Strategien, um die Dilemmata des heterosexuellen Kampfes zu überwinden“ (2013, S. 67). Ich halte es für zweifelhaft, ob SM-Praktiken das geeignete Mittel sind, einer Beziehung mehr Spannung zu verleihen oder gar Strategien anbieten, um alte Geschlechterrollen aufzubrechen. Sicherlich kann man im Anschluss an die oben beschriebene Petrifikationsgefahr eine Beziehung auch als Kampf um die Aufrechterhaltung der eigenen Autonomie beschreiben. Diese wechselseitige Autonomie kann man auch als eine Form von Symmetrie in Bezug auf die wechselseitige Einschränkung und Eröffnung von Handlungsmöglichkeiten beschreiben. Wenn aber beide Partner darum bemüht sind trotz der Bindung an den Partner die eigene Autonomie zu behaupten, dann drückt sich zumindest in den Hardcore-Varianten von BDSM der Wunsch aus, diese Symmetrie zugunsten eines der Beteiligten aufzulösen. Während der Sadist den aktiven Part übernimmt, bleibt der Masochist passiv. Der Sadist bekommt die volle Handlungsautonomie und der Masochist gibt diese vollständig auf. Der Masochist lässt sich freiwillig petrifizieren. Aus dieser Ohnmacht zieht er seinen Lustgewinn. Der Sadist wiederum zieht aus seiner Allmacht über den Masochisten seinen Lustgewinn.
Irritierend an SM-Praktiken ist zunächst nur, dass sich Personen freiwillig Dinge antun lassen, von denen man gemeinhin annimmt, dass sich das niemand freiwillig antun lassen würden - die freiwillige Einschränkung seiner Autonomie durch jemand anderen als man selbst. Verstörend wird dieser Eindruck, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass diese freiwillige Unfreiheit und die damit verbundenen Erniedrigungen, Demütigungen und Schmerzen bei jemandem Lustgefühle auslösen können. BDSM ist in dieser Hinsicht eine Art von verkehrter Welt im Vergleich zum modernen Menschenbild eines autonomen, reflexions- und entscheidungsfähigen Wesens, das darum bemüht ist seine Handlungsfreiheiten nur dann freiwillig aufzugeben, wenn sich dadurch zugleich neue Handlungsfreiheiten eröffnen, die es wert sind alte Handlungsfreiheiten dafür aufzugeben. Bei BDSM eröffnen sich durch die notwendigen Einschränkungen keine neuen Handlungsmöglichkeiten, sondern nur neue Erfahrungsmöglichkeiten.
Die Frage ist aber, kann das Selbstverständnis der Beteiligten, wie es sich in den SM-Praktiken ausdrückt, die Basis für eine stabile und dauerhafte Liebesbeziehung sein? Während sich der Sadist gern als jemand erfährt, der eine andere Person petrifiziert und ihr dadurch ihre Menschlichkeit nimmt, erfährt sich der Masochist gern als etwas, als Ding, mit dem man machen kann, was man will, und nicht als jemand. Obwohl sich diese Selbstbilder zunächst nur in - im weitesten Sinne - sexuellen Praktiken ausdrücken, handelt es sich dabei zugleich um etwas sehr Intimes, was man jemand anderem über sich mitteilen kann. Und deswegen hat das, was die Beteiligten bei derartigen Praktiken zu sehen bekommen, auch Auswirkungen auf alle anderen Facetten der Beziehung und wird das Gesamtbild, was man von der Person des Partners hat, massiv beeinflussen. Hier kommt dann doch wieder die Erwartung zum Tragen, dass Menschen von sich selbst und von anderen als Person gesehen werden wollen, aus der sich auch die konstitutive Unruhe der Beziehung ergibt. Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen SM-Praktiken dann doch sehr speziell, denn sie gewinnen ihren Reiz gerade aus der Negation dieser Erwartung. Und doch kann gerade die Erfahrung der eigenen Ohnmacht sexuell äußerst anregend sein. In abgeschwächter Form sind solche Spiele um Macht und Ohnmacht heute auch bei konventionellen Sexpraktiken verbreitet, wie z. B. verbundene Augen, mit Handschellen ans Bett fesseln etc. Diese verfestigen sich nur nicht zu der oben beschriebenen Rollenasymmetrie zwischen Sadist und Masochist, sondern lebt von der Variation und dem Rollentausch, also dass sowohl die Frau als auch der Mann mal den dominanten Part übernehmen können. Bis ins Schlafzimmer hinein kann man also das Bemühen der Partner beobachten, dass sie sich gegenseitig die Möglichkeit geben, sich als autonome Personen erfahren zu können.
Trotzdem bleibt die Frage, ob sich SM-Praktiken in einer Beziehung, die über das Körperliche hinausgeht, ausleben lassen? Denn diese Praktiken tangieren das Selbstverständnis auf eine Weise, die sich mit Liebe als sozialem Phänomen nicht vereinbaren lassen. Immerhin müssen viele Masochisten die Dienste einer Domina in Anspruch nehmen, um ihre Bedürfnisse befriedigen zu können. Was darauf hindeutet, dass es sehr schwierig sein kann, derartige Bedürfnisse in einer festen Beziehung auszuleben. Ich schreibe hier bewusst nicht von sexuellen Bedürfnissen, weil es sich teilweise um Praktiken handelt, die nicht darauf ausgelegt sind am Ende einen Orgasmus zu erleben, sondern bei denen es eher um die Erfahrung der Ohnmacht geht, also die Negation als Mensch, oder um die Erfahrung der Allmacht, also der fast schon übermenschlichen, gottgleichen Handlungspotenz. Obgleich es nur um die stimulierende Einflussnahme auf den Körper geht, drückt sich darin trotzdem ein Selbstverständnis aus, das mit konventionellen Selbstbildern nur schwer zu vereinbaren ist und gerade deswegen kaum auf dauerhafte geistige Resonanz stoßen wird. Einfacher ausgedrückt, ein Objekt, ein Ding leistet keinen aktiven Widerstand und wird irgendwann langweilig. Da man aber trotzdem nicht umhin kommt zu bedenken, dass es sich bei den Petrifizierten immer noch um Personen handelt, besteht vermutlich die nicht geringe Gefahr, dass die Beteiligten irgendwann den Respekt vor sich selbst verlieren - der Masochist, weil er solche Dinge mit sich anstellen lässt, der Sadist, weil er den Masochisten benötigt, um sich in der gewünschten Weise selbst zu erfahren.
Insofern wäre ich vorsichtig BDSM zu einer Form sexueller Selbsthilfe zu stilisieren, wie Illouz es tut (vgl. 2013, S 74f.). Wenn ich nach Illouz‘ Darstellung der Geschichte gehe - ich habe die Romane nicht gelesen -, die in „Shades Of Grey“ erzählt wird, dann handelt es sich um die Beschreibung einer Beziehung, die sich von der rein körperlichen, von SM-Praktiken dominierten Beziehung zu einer Liebesbeziehung im hier beschriebenen Verständnis entwickelt. Ana, die weibliche Hauptfigur des Romans, genießt zwar auf der einen Seite die SM-Praktiken. Auf der anderen Seite wehrt sie sich gegen die Versuche von Christian Grey diese Beziehung in einem Vertrag festzuschreiben. Am Ende der Geschichte steht das klassische Happy End, bei dem die beiden heiraten und eine konventionelle Beziehung führen. So kann vermutet werden, dass sich die Geschichte um den Kampf dreht die Asymmetrien, von denen die Beziehung von Ana und Christian am Anfang geprägt war, in Symmetrien zu verwandeln. BDSM wäre dann weniger eine Form sexueller Selbsthilfe. Vielmehr bietet die Beziehung von Ana und Christian und die SM-Praktiken einen starken Hintergrund, an dem sich die Paradoxie der Liebe literarisch sehr kontrastreich darstellen lässt. Während die Anfangsbeziehung die Petrifikationsgefahr der Liebe deutlich macht, zeigt das Ende die Chancen der Liebe. Alle Mittel und Wege, um die Form der Beziehung vom Anfang in die am Ende der Geschichte zu verwandeln, können den Leserinnen Anregungen zur Selbsthilfe geben. Das geht dann vermutlich weit über ein paar Sextipps hinaus. Gerade wenn sich Liebe nicht auf die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse reduzieren lässt, sondern auch das psychische Befürfnis vom Partner als die Person behandelt zu werden, als die man sich selbst gern sieht, reichen Sextipps bei Weitem nicht aus, um eine Beziehung am Leben zu erhalten. Vielmehr eröffnet sich ein Kontinuum, an dessen einem Ende die rein sexuelle Beziehung steht und am anderen Ende eine rein vergeistige oder platonische Beziehung. Das Leben findet dazwischen statt.
Jeder Liebesroman gibt in mehr oder weniger ausgeprägter Form Anregungen für das eigene Liebesleben. Das macht jede Lektüre, wie Illouz es beschreibt, „zu einem paradigmatischen Akt des modernen Selbstseins“ (Illouz 2013, S. 74). Illouz selbst ist jedoch der Ansicht, dass nur die Lektüre von „Shades Of Grey“ ein solcher Akt sein soll. Die Formen des Selbstseins, die sich in SM-Praktiken ausdrücken, würde ich im Hinblick auf die Erstarrung in einer festgelegten Rollenasymmetrie gerade nicht als modern bezeichnen. Modern wären derartige Beziehungen allenfalls, wenn der Sadist und der Masochist auch mal die Rollen tauschen würden. Solche Fälle sind mir allerdings nicht bekannt und auch nur schwer vorstellbar. Gegenbeispiele würden mich aber sehr interessieren. Desweiteren halte ich auch die Reduktion auf die rein körperliche Traktierung des anderen nicht für modern, weil sich darin eigentlich nur die Unfähigkeit ausdrückt, sich auf den anderen als Person einzulassen. Man braucht den Sinn seines Handelns nur am eigenen Handeln ausrichten. Was der andere macht, ist eigentlich egal. Als modern betrachte ich die Fähigkeit sein Handeln sinnhaft am Handeln des anderen zu orientieren. Faktisch waren Menschen immer schon dazu in der Lage und haben es auch getan. Aber erst mit der Moderne ist man darauf aufmerksam geworden, dass dies ein Teil des Geheimnisses erfolgreicher Kommunikation ist.
Laing, Ronald D. (1972: Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn. Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbek bei Hamburg
Luhmann, Niklas (1982): Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. Sonderausgabe zum 30jährigen Bestehen der stw-Reihe
Die Verlockung der Liebe – nicht der körperlichen, hier ist also nicht von Sex die Rede! – besteht darin, durch die wechselseitige Vorwegnahme des Erlebens und Handelns des Partners sich gegenseitig handlungsunfähig zu machen. Da der Partner bereits weiß, was man tun möchte, kommt er mit seinem Handeln dem eigenen Handeln zuvor. Man braucht also nicht mehr selbst zu handeln, weil dies der Partner bereits vorausschauend tut. Die Liebenden können sich auf diese Weise gegenseitig ihrer Handlungsfreiheiten berauben. Durch die Liebe des Partners wird man zu einem Objekt, einem Ding gemacht. Diesen Vorgang beschreibt Ronald D. Laing als Depersonalisierung oder Petrifikation (vgl. 1972, S. 18ff.). Das ist zwar ein völlig idealisiertes Verständnis von Liebe. Es hilft aber zu verstehen, warum sich viele Liebespaare gleichsam wortlos verstehen. Die Liebenden kennen sich gegenseitig so gut, dass sie sich bereits denken können, was der Partner über einen bestimmten Sachverhalt denken könnte.
Man kann dieses Gedankenexperiment noch weiter treiben. Reden ist eine Form von Handeln. Fokussiert man das Gedankenexperiment nur auf das Reden bzw. Sprechen, dann wäre Liebe eine Form sich gegenseitig zum Schweigen zu bringen. Dabei gibt es allerdings einen Haken. Um sich zu vergewissern, dass dieses Schweigen immer noch berechtigt ist, muss man miteinander reden. Die Kunst des Liebens besteht also darin miteinander zu reden, obwohl man schweigen könnte. Es geht mit anderen Worten darum, Unterschiede zu erzeugen, die keine Unterschiede machen. Gerade durch die Abweichungen vom Erwartbaren wird die Liebeserwartung bestätigt. Nun versteht man, warum Liebe verrückt machen kann. Es geht darum, mit einer Paradoxie umzugehen bzw. diese zu entfalten. Dadurch wird diese Paradoxie zur Quelle einer unendlichen Vielfalt von Möglichkeiten sich gegenseitig der Liebe des anderen zu versichern und zugleich der Ausweg, um der Petrifikation zu entkommen. Es geht darum in den Augen des Partners als Person in Erscheinung zu treten und von ihm als solche bestätigt zu werden, und eben nicht als ein totes Ding.
Wenn man das verstanden hat, versteht man auch, warum jede Liebesbeziehung irgendwann an den Punkt kommt, wo beide Partner das Bedürfnis bekommen neuen Schwung in ihre Beziehung zu bringen. Irgendwann kennt man den Partner so gut, dass Langeweile aufkommt. Das schlimmste, was einer Beziehung passieren kann, ist, wenn sich beide Partner irgendwann gegenseitig langweilen. Liebe kann sich quasi selbst ersticken, wenn nichts Neues passiert. Deswegen muss das Feuer immer wieder angefacht werden, weil der Partner ansonsten irgendwann so berechenbar wird wie ein Automat. Es steigt die Versuchung den Partner immer mehr wie ein Ding zu behandeln und ihn oder sie irgendwann wie ein Spielzeug gelangweilt beiseite zu legen. Eine Beziehung kann man nur am Leben erhalten, wenn man dieses dead end vermeidet. Dies gelingt natürlich nicht nur durch Reden, sondern durch jegliche Form kommunikativ Unterschiede zu erzeugen, die keine Unterschiede machen. Der Kreativität und Fantasie sind im Prinzip keine Grenzen gesetzt. Die einzige Grenze setzt die Fantasie des Partners. Solange sich aber beide die Möglichkeit geben am anderen zu wachsen, entsteht eine gemeinsame Welt, die sich durch den beständigen Bewegungszwang, der sich aus der Petrifikationsgefahr ergibt, immer weiter entwickelt.
In diesem Problemkontext lässt sich dann unter anderem die gesellschaftliche Funktion von Romanen wie „Shades Of Grey“ verstehen. Eva Illouz hält die Roman-Triologie für eine Art Beziehungsratgeber (vgl. 2013, S. 71). Ihrer Interpretation kann ich mich teilweise anschließen. Durch die Lektüre von „Shades Of Grey“ kann man sich Anregungen holen, wie man das Sexleben in einer Beziehung wieder aufregender gestalten kann. So weist Illouz darauf hin, dass nach dem Erscheinen der Roman-Triologie die Absatzzahlen von Sexspielzeugen anstiegen, die im Roman verwendet wurden (vgl. 2013, S. 72). Ich würde allerdings nicht soweit wie sie gehen und „Shades Of Grey“ als eine Art Selbsthilfe-Ratgeber für die Identitätspolitik in einer Beziehung zu interpretieren. Romane sind primär Unterhaltungsmedien, die vordergründig keinen Erziehungsanspruch haben. Nichts desto trotz kann es ein Effekt der Lektüre sein, dass man durch die Lektüre auch etwas lernt, was man im eigenen Leben anwenden kann. In diesem Sinne ist es kein Ratgeber, weil nicht explizit Ratschläge gegeben werden. Der Roman ist zunächst nur ein Kommunikationsangebot, von dem man sich irritieren lassen kann oder auch nicht. Einige dieser Irritationen bzw. Effekte können dann auch als Lernen beschrieben werden, weil man Lösungsstrategien für ein Problem vorgeführt bekommt, von dem man auch selbst betroffen ist.
Mit Blick auf „Shades Of Grey“ sind diese Lösungen die Varianten, wie man den Sex anders gestalten kann. Darüber hinaus sieht Illouz in BDSM „eine Reihe von symbolischen Strategien, um die Dilemmata des heterosexuellen Kampfes zu überwinden“ (2013, S. 67). Ich halte es für zweifelhaft, ob SM-Praktiken das geeignete Mittel sind, einer Beziehung mehr Spannung zu verleihen oder gar Strategien anbieten, um alte Geschlechterrollen aufzubrechen. Sicherlich kann man im Anschluss an die oben beschriebene Petrifikationsgefahr eine Beziehung auch als Kampf um die Aufrechterhaltung der eigenen Autonomie beschreiben. Diese wechselseitige Autonomie kann man auch als eine Form von Symmetrie in Bezug auf die wechselseitige Einschränkung und Eröffnung von Handlungsmöglichkeiten beschreiben. Wenn aber beide Partner darum bemüht sind trotz der Bindung an den Partner die eigene Autonomie zu behaupten, dann drückt sich zumindest in den Hardcore-Varianten von BDSM der Wunsch aus, diese Symmetrie zugunsten eines der Beteiligten aufzulösen. Während der Sadist den aktiven Part übernimmt, bleibt der Masochist passiv. Der Sadist bekommt die volle Handlungsautonomie und der Masochist gibt diese vollständig auf. Der Masochist lässt sich freiwillig petrifizieren. Aus dieser Ohnmacht zieht er seinen Lustgewinn. Der Sadist wiederum zieht aus seiner Allmacht über den Masochisten seinen Lustgewinn.
Irritierend an SM-Praktiken ist zunächst nur, dass sich Personen freiwillig Dinge antun lassen, von denen man gemeinhin annimmt, dass sich das niemand freiwillig antun lassen würden - die freiwillige Einschränkung seiner Autonomie durch jemand anderen als man selbst. Verstörend wird dieser Eindruck, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass diese freiwillige Unfreiheit und die damit verbundenen Erniedrigungen, Demütigungen und Schmerzen bei jemandem Lustgefühle auslösen können. BDSM ist in dieser Hinsicht eine Art von verkehrter Welt im Vergleich zum modernen Menschenbild eines autonomen, reflexions- und entscheidungsfähigen Wesens, das darum bemüht ist seine Handlungsfreiheiten nur dann freiwillig aufzugeben, wenn sich dadurch zugleich neue Handlungsfreiheiten eröffnen, die es wert sind alte Handlungsfreiheiten dafür aufzugeben. Bei BDSM eröffnen sich durch die notwendigen Einschränkungen keine neuen Handlungsmöglichkeiten, sondern nur neue Erfahrungsmöglichkeiten.
Die Frage ist aber, kann das Selbstverständnis der Beteiligten, wie es sich in den SM-Praktiken ausdrückt, die Basis für eine stabile und dauerhafte Liebesbeziehung sein? Während sich der Sadist gern als jemand erfährt, der eine andere Person petrifiziert und ihr dadurch ihre Menschlichkeit nimmt, erfährt sich der Masochist gern als etwas, als Ding, mit dem man machen kann, was man will, und nicht als jemand. Obwohl sich diese Selbstbilder zunächst nur in - im weitesten Sinne - sexuellen Praktiken ausdrücken, handelt es sich dabei zugleich um etwas sehr Intimes, was man jemand anderem über sich mitteilen kann. Und deswegen hat das, was die Beteiligten bei derartigen Praktiken zu sehen bekommen, auch Auswirkungen auf alle anderen Facetten der Beziehung und wird das Gesamtbild, was man von der Person des Partners hat, massiv beeinflussen. Hier kommt dann doch wieder die Erwartung zum Tragen, dass Menschen von sich selbst und von anderen als Person gesehen werden wollen, aus der sich auch die konstitutive Unruhe der Beziehung ergibt. Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen SM-Praktiken dann doch sehr speziell, denn sie gewinnen ihren Reiz gerade aus der Negation dieser Erwartung. Und doch kann gerade die Erfahrung der eigenen Ohnmacht sexuell äußerst anregend sein. In abgeschwächter Form sind solche Spiele um Macht und Ohnmacht heute auch bei konventionellen Sexpraktiken verbreitet, wie z. B. verbundene Augen, mit Handschellen ans Bett fesseln etc. Diese verfestigen sich nur nicht zu der oben beschriebenen Rollenasymmetrie zwischen Sadist und Masochist, sondern lebt von der Variation und dem Rollentausch, also dass sowohl die Frau als auch der Mann mal den dominanten Part übernehmen können. Bis ins Schlafzimmer hinein kann man also das Bemühen der Partner beobachten, dass sie sich gegenseitig die Möglichkeit geben, sich als autonome Personen erfahren zu können.
Trotzdem bleibt die Frage, ob sich SM-Praktiken in einer Beziehung, die über das Körperliche hinausgeht, ausleben lassen? Denn diese Praktiken tangieren das Selbstverständnis auf eine Weise, die sich mit Liebe als sozialem Phänomen nicht vereinbaren lassen. Immerhin müssen viele Masochisten die Dienste einer Domina in Anspruch nehmen, um ihre Bedürfnisse befriedigen zu können. Was darauf hindeutet, dass es sehr schwierig sein kann, derartige Bedürfnisse in einer festen Beziehung auszuleben. Ich schreibe hier bewusst nicht von sexuellen Bedürfnissen, weil es sich teilweise um Praktiken handelt, die nicht darauf ausgelegt sind am Ende einen Orgasmus zu erleben, sondern bei denen es eher um die Erfahrung der Ohnmacht geht, also die Negation als Mensch, oder um die Erfahrung der Allmacht, also der fast schon übermenschlichen, gottgleichen Handlungspotenz. Obgleich es nur um die stimulierende Einflussnahme auf den Körper geht, drückt sich darin trotzdem ein Selbstverständnis aus, das mit konventionellen Selbstbildern nur schwer zu vereinbaren ist und gerade deswegen kaum auf dauerhafte geistige Resonanz stoßen wird. Einfacher ausgedrückt, ein Objekt, ein Ding leistet keinen aktiven Widerstand und wird irgendwann langweilig. Da man aber trotzdem nicht umhin kommt zu bedenken, dass es sich bei den Petrifizierten immer noch um Personen handelt, besteht vermutlich die nicht geringe Gefahr, dass die Beteiligten irgendwann den Respekt vor sich selbst verlieren - der Masochist, weil er solche Dinge mit sich anstellen lässt, der Sadist, weil er den Masochisten benötigt, um sich in der gewünschten Weise selbst zu erfahren.
Insofern wäre ich vorsichtig BDSM zu einer Form sexueller Selbsthilfe zu stilisieren, wie Illouz es tut (vgl. 2013, S 74f.). Wenn ich nach Illouz‘ Darstellung der Geschichte gehe - ich habe die Romane nicht gelesen -, die in „Shades Of Grey“ erzählt wird, dann handelt es sich um die Beschreibung einer Beziehung, die sich von der rein körperlichen, von SM-Praktiken dominierten Beziehung zu einer Liebesbeziehung im hier beschriebenen Verständnis entwickelt. Ana, die weibliche Hauptfigur des Romans, genießt zwar auf der einen Seite die SM-Praktiken. Auf der anderen Seite wehrt sie sich gegen die Versuche von Christian Grey diese Beziehung in einem Vertrag festzuschreiben. Am Ende der Geschichte steht das klassische Happy End, bei dem die beiden heiraten und eine konventionelle Beziehung führen. So kann vermutet werden, dass sich die Geschichte um den Kampf dreht die Asymmetrien, von denen die Beziehung von Ana und Christian am Anfang geprägt war, in Symmetrien zu verwandeln. BDSM wäre dann weniger eine Form sexueller Selbsthilfe. Vielmehr bietet die Beziehung von Ana und Christian und die SM-Praktiken einen starken Hintergrund, an dem sich die Paradoxie der Liebe literarisch sehr kontrastreich darstellen lässt. Während die Anfangsbeziehung die Petrifikationsgefahr der Liebe deutlich macht, zeigt das Ende die Chancen der Liebe. Alle Mittel und Wege, um die Form der Beziehung vom Anfang in die am Ende der Geschichte zu verwandeln, können den Leserinnen Anregungen zur Selbsthilfe geben. Das geht dann vermutlich weit über ein paar Sextipps hinaus. Gerade wenn sich Liebe nicht auf die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse reduzieren lässt, sondern auch das psychische Befürfnis vom Partner als die Person behandelt zu werden, als die man sich selbst gern sieht, reichen Sextipps bei Weitem nicht aus, um eine Beziehung am Leben zu erhalten. Vielmehr eröffnet sich ein Kontinuum, an dessen einem Ende die rein sexuelle Beziehung steht und am anderen Ende eine rein vergeistige oder platonische Beziehung. Das Leben findet dazwischen statt.
Jeder Liebesroman gibt in mehr oder weniger ausgeprägter Form Anregungen für das eigene Liebesleben. Das macht jede Lektüre, wie Illouz es beschreibt, „zu einem paradigmatischen Akt des modernen Selbstseins“ (Illouz 2013, S. 74). Illouz selbst ist jedoch der Ansicht, dass nur die Lektüre von „Shades Of Grey“ ein solcher Akt sein soll. Die Formen des Selbstseins, die sich in SM-Praktiken ausdrücken, würde ich im Hinblick auf die Erstarrung in einer festgelegten Rollenasymmetrie gerade nicht als modern bezeichnen. Modern wären derartige Beziehungen allenfalls, wenn der Sadist und der Masochist auch mal die Rollen tauschen würden. Solche Fälle sind mir allerdings nicht bekannt und auch nur schwer vorstellbar. Gegenbeispiele würden mich aber sehr interessieren. Desweiteren halte ich auch die Reduktion auf die rein körperliche Traktierung des anderen nicht für modern, weil sich darin eigentlich nur die Unfähigkeit ausdrückt, sich auf den anderen als Person einzulassen. Man braucht den Sinn seines Handelns nur am eigenen Handeln ausrichten. Was der andere macht, ist eigentlich egal. Als modern betrachte ich die Fähigkeit sein Handeln sinnhaft am Handeln des anderen zu orientieren. Faktisch waren Menschen immer schon dazu in der Lage und haben es auch getan. Aber erst mit der Moderne ist man darauf aufmerksam geworden, dass dies ein Teil des Geheimnisses erfolgreicher Kommunikation ist.
*Dies ist die überarbeitete und erweiterte Version meines Facebook-Posts vom 02.11.2013.
Kontakt: destination.unkown@gmx.net
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Literatur
Illouz, Eva (2013): Die neue
Liebesordnung. Frauen, Männer und Shades
Of Grey. Suhrkamp Verlag Berlin Laing, Ronald D. (1972: Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn. Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbek bei Hamburg
Luhmann, Niklas (1982): Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. Sonderausgabe zum 30jährigen Bestehen der stw-Reihe
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