Sonntag, 30. März 2014

Eine Anmerkung zum systemtheoretischen Funktionalismus



„Will man alles erkennen, wird man allerdings kaum etwas sehen können. Schließlich impliziert jede Beobachtung den Verzicht auf Ganzheitlichkeit. Beobachten heißt unterscheiden, um dann das Unterschiedene zu bezeichnen. Ein Beobachter, der keine Unterscheidungen trifft, wird nichts erkennen können. Eine nur undeutlich formulierte Systemtheorie wird daher kaum praktikabel sein.“

Roland Schleiffer in: Das System der Abweichungen. Eine systemtheoretische Neubegründung der Psychopathologie. Carl-Auer-Systeme Verlag Heidelberg. S, 16

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Schönes Zitat. Schleiffer hat diese Passage zwar im Hinblick auf seinen eigenen theoretischen Anspruch formuliert. Sie trifft aber auch mit Blick auf aktuell schon nicht mehr unter dem Label »Systemtheorie« firmierende Ansätze genau deren Problem. Durch die Form der Theoriebildung, die im Wesentlichen im Generalisieren liegt, bleibt das Ganze auf die eine oder andere Weise trotzdem der Bezugspunkt. Dieser Arbeitsschritt ist unverzichtbar, aber nur die Hälfte der Arbeit. Generalisierung bedeutet, durch die Suche nach der Einheit einer Unterscheidung einen Vergleichshorizont zu konstruieren. Dadurch werden verschiedene Phänomen vergleichbar. Durch die Konzentration auf die Einheit bleiben die Unterschiede zwischen den zu vergleichenden Phänomenen unbeachtet. An diesem Punkt angekommen, müssen nun in Abhängigkeit vom verwendeten Theorieapparat eigene Unterscheidungen getroffen werden, denn die Arbeit kann ja nicht bereits beendet sein, wenn man die Unterschiede weg theoretisiert hat. Ab diesen Punkt erweist sich erst die Fruchtbarkeit einer Theorie. Sie muss eine eigene Perspektive auf die interessierenden Phänomene entwickeln und sie mit eigenen Unterscheidungen rekonstruieren. Leider hält man die Arbeit heute häufig bereits nach der Dekonstruktion der konventionell verwendeten Unterscheidungen für beendet. Entsprechend undeutlich bleiben dann die Beobachtungsergebnisse. Um dieses Problem zu kaschieren, drückt man sich dann häufig in Paradoxien aus.

Schleiffers Buch habe ich vor einigen Tagen zu Ende gelesen. Zurück geblieben ist ein zwiespältiger Eindruck. Wer sich für die Themen Systemtheorie und Psychologie interessiert, dem kann ich das Buch wärmstens ans Herz legen, denn es bietet einige sehr interessante Analysen und Denkanstöße. Mir hat besonders gut die Analyse der Kommunikation zwischen Mutter und Säugling gefallen (Kapitel 3). Zufälligerweise las ich parallel dazu gerade von René Spitz „Nein und Ja. Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation“ (1978), der dasselbe Thema aus psychoanalytischer Perspektive behandelt. Diese Kontrastierung mit einer anderen Perspektive hat mir geholfen besser zu verstehen, wie Menschen sozialisiert werden, damit sie an Kommunikation teilnehmen können.

Schleiffers Buch ist allerdings kein Buch für Einsteiger in die beiden Themengebiete. Für die Lektüre sollte man auf jeden Fall fundierte Vorkenntnisse mitbringen, denn einige Aussagen sind aus meiner Sicht mit einiger Vorsicht zu genießen. Symptomatisch war für mich ein Problem, das mir bereits in anderen systemtheoretischen Publikationen aufgefallen war. Da diese Publikationen aber keine praktische Anwendung einer funktionalen Analyse anbieten, hatte ich im letzten Post auf meinem Beobachter-der-Moderne-Blog nur in einer Fußnote (FN 1) auf dieses Problem hingewiesen. Es geht um die Anwendung der funktionalen Analyse im Anschluss an Luhmann. In der Luhmann-Rezeption hat sich inzwischen ein breiter Konsens darüber durchgesetzt, dass es die Aufgabe einer funktionalen Analyse sei, ein Problem zu konstruieren, für das dann ein bestimmtes Kommunikationsphänomen als Lösung betrachtet werden kann. In den einschlägigen systemtheoretischen Publikationen wird man solche oder ähnliche Formulierungen finden, um die funktionale Methode zu beschreiben. Vereinfacht ausdrückt, lautet die Idee dahinter: wir haben hier eine Lösung – das zu erklärende Phänomen – und müssen jetzt das zu lösende Problem finden. Diese Idee ist nicht grundsätzlich falsch, denn die obige Formulierung kann man auch bei Luhmann selbst finden (vgl. Luhmann 1995, S. 223). Für mich stellt sich aber die Anschlussfrage, nach welchen Kriterien dieses Problem konstruiert werden soll? Hinzu kommt, dass es ja eigentlich nicht nur um ein Phänomen geht, sondern um verschiedene Phänomene, die durch die Konstruktion einer Gemeinsamkeit vergleichbar gemacht werden sollen. Die Frage nach dem Problem ist damit die Frage nach der Einheit einer Unterscheidung, mit der die verschiedenen Phänome als gleich behandelt werden können, um davon ausgehend Unterscheidungen zu entwickeln, die das jeweilige Erkenntnisinteresse beantworten und auf dieser Grundlage Handlungsmöglichkeiten sichtbar werden lassen. Die Angaben zu den Kriterien, wie man bei der Suche nach dieser Einheit vorgeht, sind zumeist recht spärlich. Man findet allenfalls noch den Hinweis auf funktionale Analyse. Was das allerdings genau bedeutet, wird, außer bei Luhmann selbst, kaum eingehender ausgeführt.

Obwohl Schleiffer einen wesentlich höheren theoretischen Anspruch verfolgt als vergleichbare Publikationen aus der Soziologie, tritt auch bei ihm das Problem der weitest gehend kriterienfreien Problemkonstruktion ziemlich deutlich zu Tage. Er bleibt zwar im systemtheoretischen Theorierahmen und verfällt nicht in wilde Spekulationen. Mit dem Ergebnis wird dann auch kaum ein Kenner der Luhmannschen Systemtheorie Probleme haben, denn es leuchtet intuitiv zunächst ein. Aber genau darin liegt das Problem. Schleiffer verfolgt mit „Das System der Abweichungen“ das Ziel, Verhaltensstörungen einer funktionalen Analyse zu unterziehen. Das Ergebnis ist, dass derartige als pathologisch beobachteten Verhaltensformen für das psychische System sehr wohl funktional sind, denn sie sichern die weitere Autopoiesis des psychischen Systems (vgl. 2012, S. 214f.). Bei Schleiffers Methode handelt es sich ohne Zweifel um eine funktionale Analyse. Bei dem Problem der Sicherung der psychischen Autopoiesis handelt es sich aber im Prinzip nur um eine andere Formulierung des Problems der Bestandserhaltung, wie es bereits der Strukturfunktionalismus formuliert hatte. Der Wechsel von Bestandserhaltung zu Autopoiesis-Sicherung ist sicherlich der Versuch einer Anpassung an den operativen Konstruktivismus der Luhmannschen Systemtheorie. Da bei Schleiffer aber ansonsten konstruktivistische Überlegungen eine eher untergeordnete Rolle spielen, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich bei der funktionalen Analyse, die Schleiffer anwendet, nur um eine Reformulierung des Strukturfunktionalismus mit systemtheoretischen Begriffen handelt.

Zusätzlich ergaben sich mir während der Lektüre ernsthafte Zweifel, ob das Problem mit Autopoiesis-Sicherung wirklich treffend generalisiert wurde. Wenn jede Verhaltensweise die Funktion erfüllt, dass die Autopoiesis des psychischen Systems fortgesetzt wird, stellt sich nämlich die Frage, wie in diesem Kontext Suizide zu beurteilen sind? Schleiffer selbst weist im Verlauf des Buches mehrmals auf Klienten mit suizidalen Tendenzen hin. Im Anbetracht des Ergebnisses eines erfolgreichen Suizids kann man allerdings nicht ernsthaft behaupten, dass dieses Verhalten funktional für die Fortsetzung der psychischen Autopoiesis sei. Im Gegenteil, es ist der Zweck eines Suizids die psychische Autopoiesis zu beenden. Aus der funktionalistischen Perspektive Schleiffers könnte man im Hinblick auf diese Lösung eigentlich nur feststellen, dass mit einem Suizid der Teufel offenbar mit dem Beelzebub ausgetrieben wird. Mit anderen Worten, nicht jedes Verhalten eines Betroffenen kann als Versuch gedeutet werden, die psychische Autopoiesis fortzusetzen. Ein weiterer Grund, warum ich nicht glaube, dass die Fortsetzung der psychischen Autopoiesis das Problem ist, liegt in der konstitutiven Unruhe der psychischen Aufmerksamkeit. Sie lässt sich nur sehr schwierig stillstellen. Jeder, der schon mal Einschlafprobleme hatte, kennt das Problem. Ebenso fängt die Aufmerksamkeit an zu wandern, sobald eine Situation langweilig wird und sucht sich, wenn möglich, eine andere Beschäftigung. Lehrer und Dozenten werden dieses Problem zur Genüge kennen. Damit möchte ich nicht unterstellen, dass alle Lehrer und Dozenten langweilig sind, denn das liegt im Auge des Betrachters. Was den einen Zuhörer unterfordert, damit ist ein anderer bereits überfordert. Es darf angenommen werden, dass sich in beiden Fällen die psychische Aufmerksamkeit lieber anderweitig binden lässt, um über den Frust hinweg zu kommen. Mit anderen Worten, die Autopoiesis des psychischen Systems läuft automatisch weiter und ist nicht zu stoppen. Demzufolge kann sie auch nicht gefährdet werden, außer durch systemexterne Gründe, wie Selbsttötung. Suizid kann man, wenn man von der unaufhaltsamen Autopoiesis des psychischen Systems als Problem ausgeht, eher als Versuch betrachten die Autopoiesis des psychischen Systems zu beenden, denn diese löst ja auch den Leidensdruck aus.

Aufgrund der vorangegangenen Überlegungen sind einige Zweifel an Schleiffers funktionalen Bestimmung des psychischen Problems angebracht. Entsprechend muss dann auch der Beurteilung der Lösungen mit Vorsicht begegnet werden. Der Lösungsversuch Suizid macht dies sehr deutlich. Als Orientierungspunkt bei der Analyse kann auch Schleiffers Problemkonstruktion zu durchaus interessanten Erkenntnissen beitragen. Seiner Deutung der Depression als Selbstexklusion (vgl. 2012, S. 203) kann ich mich im Wesentlichen anschließen. An anderer Stelle bin ich zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Entscheidend für diese Deutung ist allerdings, auf welche Systemreferenz sich die Aufmerksamkeit konzentriert - psychisch oder sozial. Da Schleiffer diesen Prozess der Selbstexklusion auch als Deadressierung beschreibt, liegt die Aufmerksamkeit auf der Referenz des sozialen Systems. Denn nur für die kommunikative Relevanz ist eine soziale Adresse in Form eines positiven Images im Sinne Erving Goffmans (vgl. 1971) notwendig. Die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion macht mithin nur im Blick auf soziale Systeme Sinn. Das psychische System kann sich nicht aus sich selbst ausschließen. Gedanken schließen immer an Gedanken an. Außerdem muss das psychische System dabei nicht, wie bei der Kommunikationsteilnahme zwischen verschiedenen Kommunikationsteilnehmern unterscheiden. Bei psychischen Systemen ist vielmehr der Selbstbeobachtungsmodus entscheidend, wie die weitere Autopoiesis des psychischen Systems fortgesetzt wird. Das bedeutet, es ist nicht entscheidend, dass weitere Gedanken angeschlossen werden – das lässt sich nicht verhindern –, sondern wie durch die Gedankenanschlüsse die eigene Welt konstruiert wird.

Diese Beobachtungsformen können dann für einen Therapeuten durchaus den Eindruck erwecken, dass ein psychisches System versucht sich aus sich selbst auszuschließen, um seiner bedrückenden Welt zu entkommen. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist allerdings das, was Ronald D. Laing als »geteiltes Selbst« bezeichnet (vgl. 1972). Ich deute diese Form der psychischen Selbstexklusion als Flucht von der realen Welt in eine ideale Welt. Der Zweck dieses Beobachtungsmanövers ist es der schmerzhaften Differenz zwischen der realen Welt und der idealen Welt zu entkommen. Da man jeweils selbst Teil der realen und der idealen Welt ist, ist es nicht nur eine Flucht aus der realen Welt, sondern auch eine Flucht vor dem realen Selbst, dass sich aus der Differenz zu anderen Personen ergibt, mit denen man interagiert. Die Flucht vor dem realen Selbst ist somit auch eine Flucht vor den Kommunikationspartnern bzw. der eigenen Vermutung über das Bild, was der andere von einem bekommen könnte - und dieses Bild wird maßgeblich durch das eigene Handeln bestimmt. Damit wird die psychische Aufmerksamkeit wieder auf sich selbst zurückverwiesen. Doch durch die Angst, wie man in den Augen der Kommunikationspartner erscheinen könnte, wird dann von Fall zu Fall in einem mehr oder weniger ausgeprägten Maße die psychische Autopoiesis blockiert. Dadurch kommt es zu Koordinationsproblemen zwischen dem psychischen Erleben und dem sozialen Handeln des Betroffenen. Der Erlebens- und Handlungsfluss wird durch ständige Zweifel gestört. Das dann beobachtbare Verhalten des Betroffenen kann unter Umständen von anderen Personen als Störung beobachtet werden.

Der entscheidende Unterschied zwischen Schleiffers und meinem maßgeblich durch Laings Studien beeinflussten Ansatz ist die Systemreferenz. Schleiffer fragt nach dem psychischen Problem, das durch das Verhalten der Betroffenen gelöst wird, ich frage nach dem sozialen Problem, dass durch das Verhalten der Betroffenen gelöst wird. Das soziale Problem, das durch jegliche Kommunikation gelöst wird, ist die wechselseitige Intransparenz bzw. Unbeobachtbarkeit der psychischen Systeme. Sie müssen anderen psychischen Systemen durch Gesten oder Sprache mitteilen, wie sie erleben, damit ein anderes psychisches System weiß, wie man die Welt sieht. Dies geschieht natürlich nicht immer direkt, in dem man einfach sagt, wie man einen Sachverhalt erlebt. Das würde häufig zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Dies geschieht vielmehr vermittelt über das gesamte Verhalten im Kontext der Lösung des sozialen Problems. Deswegen habe ich in meinem letzten Blogbeitrag geschrieben „Verhalten ist codiertes Erleben“. Durch diese wechselseitige Intransparenz weiß man auch nicht, wie man durch sein eigenes Verhalten in den Augen der Kommunikationspartner erscheint. Gleichwohl möchte man lieber mit Menschen interagieren, bei denen man das Gefühl hat, verstanden zu werden. Da für die Teilnahme an Kommunikation bei den Beteiligten immer ein Bewusstsein über die wechselseitige Beobachtbarkeit (vgl. Ruesch/Bateson 2012, S. 236f.) gegeben sein muss, kann dieses Bewusstsein zum Problem werden, wenn man das Gefühl bekommt, dass man vom Gegenüber nicht verstanden wird und auch keine Möglichkeit sieht, dies zu ändern. Mit anderen Worten, der Betroffene versteht die Codierungen der Kommunikationspartner nicht und kann daher auch nicht auf das Erleben seines Kommunikationspartners zurückschließen. Damit bekommt er auch keine Vorstellung, wie er von seinem Kommunikationspartner gesehen wird. Normalerweise sucht man sich dann Kommunikationspartner, bei denen man das Gefühl bekommt, verstanden zu werden. Therapeutisch relevant wird dieses Problem aber erst, wenn der Betroffene das Gefühl bekommt, dass ihn niemand anderes versteht und anfängt entweder seinen Frust offen oder verdeckt an anderen auszulassen oder den Kontakt zu anderen Personen meidet. Mithin wird dieses Selbstbild als Unverstandener irgendwann selbst Teil des Problems, denn dieser Selbstbeobachtungsmodus wird zu einem selbstbestätigenden Mechanismus, der immer resistenter gegen Irritationen aus der Umwelt wird.

Da dieses Problem der Ungewissheit, wie man von anderen gesehen wird, alle Menschen betrifft, muss es bis auf ein gesellschaftstheoretisches Niveau generalisiert werden. In der Konsequenz muss davon ausgegangen werden, dass dieses Problem in jede Kommunikationssituation mit hinein funkt, egal ob es sich um funktional unspezifizierte oder spezifizierte Kommunikation handelt. Dieses Problem ergibt sich letztlich aus der Differenz in der Sozialdimension, also einer Differenz zwischen Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung. In der Luhmannschen Systemtheorie gibt es aber nicht nur dieses eine Problem der wechselseitigen Intransparenz psychischer Systeme, das durch Kommunikation gelöst wird. Betrachtet man Kommunikationsprozesse in der Zeit, dann sind die beteiligten Menschen immer beides, Beobachter (Ego) und Beobachteter (Alter), und beide beobachten sich wechselseitig als erlebend und handelnd. Aus dieser Konstellation lassen sich durch Kreuztabellierung vier weitere Problemkonstellationen ableiten (vgl. Luhmann 1997, 336f.):

Alter handelt -> Ego handelt 
Alter handelt -> Ego erlebt  
Alter erlebt -> Ego erlebt 
Alter erlebt -> Ego handelt 

Die Kommunikation läuft immer von Alter zu Ego. D. h. Alter ist der Mitteilende und Ego ist der Adressat. Ego schließt also immer an eine Mitteilung von Alter in Abhängigkeit von den mitgeteilten Informationen an, wie sie Ego entschlüsselt. Zu beachten ist allerdings, dass mit diesen Problemkonstellationen noch nicht die eigentlichen Probleme identifiziert sind. Aus jede dieser Problemkonstellationen ergeben sich mehrere soziale Probleme, die mit verschiedenen Kommunikationsmedien, wie Macht, Geld, Wahrheit, Intimität etc., gelöst werden [1]. Das geschieht zunächst in Kombination aus mehreren Kommunikationsmedien. Bei jedem Kommunikationsangebot kommen alle Kommunikationsmedien zum Einsatz. Dabei kommt es auf die Gestaltung an, welche der Kommunikationsmedien im Vordergrund stehen, um die Aufmerksamkeit des Adressaten zu fokussieren. Nichts desto trotz können sich die einzelnen Kommunikationsmedien auch gegenseitig behindern, was erhebliche Aufwirkungen auf die Annahmewahrscheinlichkeit des Kommunikationsangebots hat. Auf dieses Problem hat die gesellschaftliche Evolution mit der funktionalen Differenzierung der Kommunikation reagiert. Das bedeutet, die Kommunikation muss so präzise gestaltet werden, dass immer nur noch ein bestimmtes soziales Problem mit einem bestimmten Kommunikationsmedium gelöst wird. Im Idealfall wird dann nicht nur das soziale Problem erfolgreich gelöst, sondern auch das psychische Problem, wie man sozial anschlussfähig bleibt. Anders ausgedrückt, werden die sozialen Adressen in Form der Person bei einer erfolgreichen Lösung nicht beschädigt, selbst wenn für einen der Beteiligten nicht das gewünschte Ergebnis dabei herauskommt. Letztlich ist nicht der persönliche Erfolg entscheidend, sondern der Weg dahin. Nur wenn man auf den Weg achtet – eigene und andere Lösungen –, lernt man, wie man eine Rolle ausfüllen muss, damit man zum Erfolg kommt. Das mag in einer Situation zu einer gefühlten Niederlage führen. Das gewonnene Wissen darüber, wie man erfolgreich sein kann, kann dann aber bei der nächsten Gelegenheit zum gewünschten Erfolg führen.

Mit den vier abgeleiteten Problemkonstellationen lassen sich weitere Probleme konstruieren. Es handelt sich aber um Probleme der Sachdimension. Eine der Leistungen funktionaler Differenzierungen bestehen somit darin, das Problem der Sozialdimension und die Probleme der Sachdimension stärker zu trennen. Funktionale Differenzierung lenkt damit die psychische Aufmerksamkeit um: weg vom egozentrischen Problem der Differenz zwischen Idealselbst und Realselbst hin zu den sozialen Lösungen, wie jemand in einer bestimmten Situation anschlussfähig in Erscheinung treten kann – und zwar so, dass auch eine Niederlage nicht peinlich sein muss. Gute Verlierer müssen sich nicht schämen. Dazu benötigt allerdings auch jeder das Wissen, um selbst beurteilen zu können, ob man im Vergleich zu anderen sein Bestes gegeben hat. Das Problem aller Personen, die aus therapeutischer Sicht als hilfsbedürftig erscheinen, liegt darin, dass ihnen genau dieses Wissen fehlt, wie man sozial akzeptabel durch sein Verhalten in Erscheinung treten kann. Sie verstehen nicht, wie andere ihr Erleben durch Verhalten codieren, und wissen daher auch nicht, wie sie ihr eigenes Erleben durch Verhalten codieren und wie das von den Adressaten verstanden wird. Die Betroffenen beharren dann lieber auf einem Idealbild von sich selbst. Sie sind aber auch nicht in der Lage durch ihr eigenes Handeln dieses Idealbild auch nur ansatzweise zu realisieren. Weil sie keine Kriterien haben, wie sie den Erfolg oder Misserfolg ihres eigenen Handelns beurteilen können, frustriert die Betroffenen die Kommunikationsteilnahme so sehr, dass sie sich irgendwann lieber ganz aus der Kommunikation zurückziehen. Genau diese Lösung macht aber das Ausgangsproblem nur noch schlimmer und löst es nicht. Es muss allerdings betont werden, dass mit diesem Problem des fehlenden Wissens, wie man sozial anschlussfähig in Erscheinung treten kann, heute jeder in dem einen oder anderen Problemkontext betroffen ist. Man kann nicht alle Codierungsformen kennen, besonders wenn man sie nicht benötigt. Nicht-Wissen ist also nicht an sich pathologisch, sondern in der Regel sogar funktional, um sich nicht selbst zu überfordern. Nicht-Wissen kann bei Differenzen in der Sozialdimension pathologisch werden, speziell wenn es um die Definition des Problems geht, von dem man betroffen ist und das durch Kommunikation gelöst werden soll.

Meine Vermutung ist, dass sich jede Verhaltensstörung als Lösung für das Problem begreifen lässt, wie man mit der eigenen Beobachtbarkeit umgeht. Je nachdem wie stark die Aversion gegen den Blick der Anderen bereits ausgeprägt ist, kann sich dies unterschiedlich ausdrücken: zum einen als Suche nach Möglichkeiten sozial akzeptabel in Erscheinung zu treten, zum zweiten als versteckte oder offene Aggression gegen den Kommunikationspartner oder zum dritten einfach durch Versuche sich der Beobachtbarkeit durch andere zu entziehen. An anderer Stelle hatte ich im Anschluss an Goffmans Konzept der Imagepflege (vgl. 1971) zwei Formen unterschieden: offensive und defensive Imagepflege. Je nachdem, ob man die eigene Beobachtbarkeit durch andere Personen als Chance oder Bedrohung für sich selbst betrachtet, betreibt man eine offensive oder eine defensive Imagepflege. Während die Suche nach Gelegenheiten sozial akzeptabel in Erscheinung zu treten hinsichtlich der Frage nach Chancen und Risiken der eigenen Beobachtbarkeit noch eine Unentschiedenheit erkennen lässt, lassen sich aggressives Verhalten und Kommunikationsvermeidung als defensive Imagepflege beschreiben.

Ich hoffe, ich konnte mit dem Vorangegangenen zeigen, welche Auswirkungen eine kleine Modifikation, wie der Wechsel der Systemreferenz, hat und zu einer anderen Problembeschreibung führt. Bei der Problemkonstruktion habe ich mich begrifflich sehr nahe an Luhmann gehalten. Da ich den Beobachtungsbegriff gegenüber dem Kommunikationsbegriff höher generalisiert habe, stößt man bei der Analyse interpersonaler Beziehungen auf den Sachverhalt, dass für die Beteiligten der Blick des Anderen zum Problem werden kann. Diese Problemstellung lag Laings Studien zugrunde (vgl. 1972; 1973). Versteht man unter Beobachten nicht nur Bezeichnen durch Unterscheiden, sondern auch Aufmerksamkeitsfokussierung, dann ist die Gemeinsamkeit von psychischen und sozialen Systemen, die zugleich beobachtende Systeme sind, die Funktion der Aufmerksamkeitsfokussierung. Auf diese Weise lässt sich das Problem der kommunikativen Relevanz von Personen mit dem systemtheoretischen Beobachtungsbegriff analysieren und eröffnet einen sozialpsychologischen Zugang zur Inklusions-/Exklusionsthematik. 

Vor diesem Hintergrund muss man allerdings feststellen, dass Luhmann das Problem der personalen Anschlussfähigkeit völlig unterschätzt hat. Eigentlich muss man sogar sagen, er hat es nicht erkannt, obwohl es sich aus seiner Theorieanlage ableiten lässt. Damit holt man sich die Psychologie wieder mit ins Boot und gerade das wollte Luhmann ja vermeiden. Bei einem prozessorientierten Ansatz, der auch Interpenetrations- und Desintegrationsprozesse analysieren und beschreiben will, kommt man aber nicht darum herum zu analysieren, welche Folgen bestimmte Formen der interpersonellen Wahrnehmung auf das Erleben und im Anschluss daran auch auf das Handeln der Personen hat, die damit beobachten. Die Ängste und Hoffnungen, die Menschen mit ihrer Beobachtbarkeit durch andere Personen verbinden, bestimmen ihr Handeln maßgeblich. Wenn man die psychischen Rückwirkungen der Kommunikationsteilnahme ignoriert und psychische Systeme wie eine black box behandelt, wird man kein adäquates Verständnis sozialer Prozesse entwickeln können.

Für die Soziologie hat Luhmann mit der Ableitung der vier Problemkonstellationen bereits eine beträchtliche Vorarbeit für die Entwicklung einer funktionalen Analyse geleistet. Die weitere Problemkonstruktion kann nur in diesem sehr engen Rahmen erfolgen. Dieser Sachverhalt ist leider bisher wenig bis gar nicht beachtet worden. Funktionale Analyse, Differenztheorie oder Spencer Browns Formenkalkül sind lediglich einzelne Theoriebausteine, die für sich genommen nur einen Erkenntnisgewinn in einem sehr begrenzten Bereich ermöglichen. Das Analyse- und Erklärungspotential der Luhmannschen Systemtheorie lässt sich erst voll ausschöpfen, wenn man alle Theoriebausteine kombiniert und zusammen anwendet. Generalisiert man einzelne Theoriebausteine zu hoch, dann läuft man Gefahr, dass die Analysen leicht windschief werden. Außerdem fällt mit dem äquivalenzfunktionalistischen Ansatz der Luhmannschen Systemtheorie die Annahme weg, dass der Bestandserhalt um jeden Preis das einzige Ziel eines Systems sei. Wenn man auch für psychologische Zwecke die Analyse bei der Referenz sozialer Systeme beginnen lässt, dann kann man beobachten, dass nicht jedes Verhalten, was aus psychischer Perspektive sinnvoll bzw. funktional erscheinen mag, auch in sozialer Hinsicht als funktional erscheint. Auf lange Sicht wird durch derartige Verhaltensweisen das psychische Problem nur noch weiter verschlimmert und nicht löst. Solche Verhaltensformen mit einem hohen interpersonalen Konfliktpotential werden dann unter Umständen aus therapeutischer Sicht als pathologisch beobachtet. Zugleich eröffnet sich mit dem sozialen Grundproblem und den daraus abgeleiteten Problemkonstellationen ein weiter Vergleichshorizont für Formen, wie das eigene Erleben durch Verhalten kodiert werden kann. Dann kann man nicht nur verschiedene Lösungen für ein Problem entdecken, sondern auch, dass eine Lösung verschiedene Probleme lösen kann. Letzteres wird meinem Eindruck nach noch viel zu wenig berücksichtigt. Erst die Berücksichtigung beider Sachverhalte unterscheidet den Äquivalenzfunktionalismus der Luhmannschen Systemtheorie vom Strukturfunktionalismus. Nur wenn man beides im Blick behält, lassen sich die vielfältigen Sinnmodulationen verstehen, die dann auch zu Problemlöseverhalten führen können, das als pathologisch auffällt. Diese pathologischen Problemlösungen sind zumeist Fehlkodierungen, die dann z. B. versuchen ein Erkenntnisproblem mit dem Kommunikationsmedium Macht zu lösen [2]

Wenn Verhalten codiertes Erleben ist, dann reicht es darüberhinaus nicht aus nur analytisch ein Problem zu konstruieren, für das verschiedene Verhaltensformen eine Lösung sein können, sondern man muss auch herausfinden, wie das Problem vom Betroffenen gesehen wird. Denn ohne Berücksichtigung des Erlebens der Betroffenen werden sich keine Lösungen finden lassen, die auch aus der Perspektive der Betroffenen als Alternativen erscheinen, die einen Unterschied zu der bisherigen Lösung machen. Sich hier nur auf seine eigene analytisch gefundene Problemkonstruktion zu verlassen, bietet noch keine ausreichende Grundlage um Lösungen für die Probleme der Betroffenen zu finden. Schleiffer legt in seiner Studie den Fokus nur darauf, das Erleben des Therapeuten für eine Diagnose zu schärfen. Leider geht er nicht darauf ein, wie man davon ausgehend zu therapeutischen Lösungen kommen kann. Außerdem stellt sich die Frage, welche therapeutischen Behandlungskonsequenzen sich eigentlich ziehen lassen, wenn Verhaltensstörungen als funktional für die psychische Autopoiesis betrachtet werden? Dazu müsste man zunächst definieren, was pathologisches Verhalten sein soll. Wenn aber jedes Verhalten für psychische Systeme funktional ist, bleibt unkar, wie funktionales von pathologischem Verhalten unterschieden werden soll. So holt Schleiffer bei der Frage der therapeutischen Handlungskonsequenzen das im Eingangszitat angesprochene Problem dann doch wieder ein. Durch die gefundene Problemkonstruktion der Fortsetzung der psychischen Autopoiesis wird ein Bezug zum kompletten Phänomenbereich, nämlich das ganze Spektrum menschlichen Verhaltens, hergestellt. Wenn jedes Verhalten funktional für die psychische Autopoiesis ist, dann ist es unmöglich pathologisches Verhalten von funktionalem zu unterscheiden. Entsprechend lassen sich auch keine Konsequenzen für therapeutisches Handeln ziehen, weil die Grundlage fehlt, auf der überhaupt ein Hilfebedarf festgestellt werden könnte. Dies kann man erst, wenn man die Systemreferenz von psychisch zu sozial wechselt. Denn das Verhalten einer Person wird zuerst für andere Personen zum Problem. Und erst an den therapeutischen Lösungen erweist sich dann, wie deutlich oder undeutlich die eigenen Beobachtungen waren. Wie deutlich oder undeutlich Schleiffers Problemkonstruktion die Beobachtung leiten kann, erweist sich somit erst beim Übergang vom therapeutischen Erleben zum therapeutischen Handeln. 

Dasselbe gilt auch für soziologische Ansätze. Der Übergang vom soziologischen Erleben zum soziologischen Handeln gelingt nicht. Stattdessen beschränkt man sich darauf das soziologische Erleben zu präzisieren, also auf Theoriearbeit. Ohne empirische Überprüfung operiert man aber nur noch selbstreferentiell. Dass dieser Übergang vom soziologischen Erleben zum soziologischen Handeln nicht gelingt, ist ein Hinweis darauf, dass auch diese systemtheoretisch inspirierten Ansätze noch einen Bezug auf das Ganze mitlaufen lassen, der noch nicht erkannt wurde. D. h. in der jeweiligen Theoriearchitektur ist eine Generalisierung enthalten, die es unmöglich macht eine Unterscheidung zu treffen, mit der man die Aufmerksamkeit auf die Umwelt richten kann.


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[1] Für eine ausführliche Darstellung der Problemkonstellationen und den Bezugsproblemen einzelner Funktionssysteme der Gesellschaft siehe meinen Text „Die Beobachtung der Beobachtung 3 – Funktionale Differenzierung“.
[2] Das Problem, dass versucht wird Erkenntnisprobleme mit dem Kommunikationsmedium Macht zu lösen, hatte ich in meinem Text „Die Beobachtung der Beobachtung 3.2 – Die Multifunktionalität der Kommunikation als Problem soziologischer Theoriebildung“ an einem wissenschaftlichen Kommunikationsangebot ausführlich dargestellt.  


Literatur 
Goffman, Erving (1971): Techniken der Imagepflege. In ders.: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. S. 10 - 53 
Laing, Ronald D. (1972): Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn. Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbek bei Hamburg 
Laing, Ronald D. (1973): Das Selbst und die Anderen. Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbek bei Hamburg 
Luhmann, Niklas (1995): Die Kunst der Gesellschaft. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 
Ruesch, Jürgen/Bateson, Gregory (2012): Kommunikation. Die soziale Matrix der Psychiatrie. 2. korrigierte Auflage Carl-Auer-Systeme Verlag Heidelberg 
Schleiffer, Roland (2012): Das System der Abweichungen. Eine systemtheoretische Neubegründung der Psychopathologie. Carl-Auer-Systeme Verlag Heidelberg 
Spitz, René A. (1978): Nein und Ja. Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Klett-Cotta Stuttgart

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