„Die soziologische Utopie lebt aufgrund eines eigenen Immunsystems, das mit dem der Gesellschaft inkompatibel ist. So wird die Soziologie zur Krankheit der Gesellschaft und die Gesellschaft zur Krankheit der Soziologie – wenn diese Inkompatibilität nicht theoretisch unter Kontrolle gebracht wird.“ Luhmann 1984, S. 505
Man muss heute 30 Jahre nach der
Veröffentlichung von „Soziale Systeme“ ernüchtert feststellen, dass diese
Inkompatibilität seitens der Soziologie bis heute nicht unter Kontrolle
gebracht wurde. Ich habe in meinem Text "Die Beobachtung der Beobachtung 3.2 - Die Multifunktionalität der Kommunikation als Problem soziologischer Theoriebildung" unter Rekurs auf Thomas Szasz‘ Buch „Geisteskrankheit
– ein moderner Mythos“ (2013) darauf hingewiesen, dass die Vorstellung
einer kranken Gesellschaft als soziologischer Mythos betrachtet werden muss. Sie
ist eine Schauergeschichte, mit der sich die sogenannten Gesellschaftskritiker
selbst erschrecken und darauf hoffen, dass das auch bei anderen funktioniert. Die
Gesellschaft hat sich gegen diese Krankheit dadurch immunisiert, dass die
Soziologie heute überwiegend mit Nichtbeachtung bestraft wird. Soziologieintern
wird dies als gesellschaftlicher Relevanzverlust registriert. Reagiert wird
darauf jedoch nur mit immer schlimmeren Schauergeschichten, wie krank die
Gesellschaft doch sei. Durch diesen Selbstüberbietungsmodus gewinnen solche
Gesellschaftsbeschreibungen aber allenfalls noch, wenn überhaupt, massenmediale
Relevanz. Sie dienen nur noch der Konfliktaufwertung (vgl. Luhmann 1984, S.
536). Wenn man sich mal versucht die Frage zu beantworten, welche
Idealvorstellungen zugrunde liegen müssen, um derartige Beschreibungen des
Ist-Zustands zu formulieren, merkt man, wie welt- und lebensfremd diese
Idealvorstellungen bzw. Utopien zumeist sind. Teil des Problems ist ein nach
wie vor weit verbreiteter Utopien-Fetischismus, der schon längst jegliche
soziale Funktion verloren hat und nur noch einem psychischen Eskapismus dient. Umso
größer ist dann natürlich der Schock, wenn man seine Aufmerksamkeit doch mal
wieder auf die soziale Realität richtet. Außerdem verhindert das Festhalten an unrealistischen Utopien, dass man sich ernsthaft mit realisierbaren Lösungen
auseinandersetzt. Mit halben Sachen oder Kompromissen kann man sich nicht zufrieden geben. Utopien liefern gute Gründe auf einem radikalen Nein zu bestehen.