Dienstag, 26. August 2014

Gesellschaftliche Konflikte und die Rolle der Soziologie


„Die soziologische Utopie lebt aufgrund eines eigenen Immunsystems, das mit dem der Gesellschaft inkompatibel ist. So wird die Soziologie zur Krankheit der Gesellschaft und die Gesellschaft zur Krankheit der Soziologie – wenn diese Inkompatibilität nicht theoretisch unter Kontrolle gebracht wird.“ Luhmann 1984, S. 505


Man muss heute 30 Jahre nach der Veröffentlichung von „Soziale Systeme“ ernüchtert feststellen, dass diese Inkompatibilität seitens der Soziologie bis heute nicht unter Kontrolle gebracht wurde. Ich habe in meinem Text "Die Beobachtung der Beobachtung 3.2 - Die Multifunktionalität der Kommunikation als Problem soziologischer Theoriebildung" unter Rekurs auf Thomas Szasz‘ Buch „Geisteskrankheit – ein moderner Mythos“ (2013) darauf hingewiesen, dass die Vorstellung einer kranken Gesellschaft als soziologischer Mythos betrachtet werden muss. Sie ist eine Schauergeschichte, mit der sich die sogenannten Gesellschaftskritiker selbst erschrecken und darauf hoffen, dass das auch bei anderen funktioniert. Die Gesellschaft hat sich gegen diese Krankheit dadurch immunisiert, dass die Soziologie heute überwiegend mit Nichtbeachtung bestraft wird. Soziologieintern wird dies als gesellschaftlicher Relevanzverlust registriert. Reagiert wird darauf jedoch nur mit immer schlimmeren Schauergeschichten, wie krank die Gesellschaft doch sei. Durch diesen Selbstüberbietungsmodus gewinnen solche Gesellschaftsbeschreibungen aber allenfalls noch, wenn überhaupt, massenmediale Relevanz. Sie dienen nur noch der Konfliktaufwertung (vgl. Luhmann 1984, S. 536). Wenn man sich mal versucht die Frage zu beantworten, welche Idealvorstellungen zugrunde liegen müssen, um derartige Beschreibungen des Ist-Zustands zu formulieren, merkt man, wie welt- und lebensfremd diese Idealvorstellungen bzw. Utopien zumeist sind. Teil des Problems ist ein nach wie vor weit verbreiteter Utopien-Fetischismus, der schon längst jegliche soziale Funktion verloren hat und nur noch einem psychischen Eskapismus dient. Umso größer ist dann natürlich der Schock, wenn man seine Aufmerksamkeit doch mal wieder auf die soziale Realität richtet. Außerdem verhindert das Festhalten an unrealistischen Utopien, dass man sich ernsthaft mit realisierbaren Lösungen auseinandersetzt. Mit halben Sachen oder Kompromissen kann man sich nicht zufrieden geben. Utopien liefern gute Gründe auf einem radikalen Nein zu bestehen.

Wissenschaftlich ist vieles von dem, was heute von Seiten der Kritischen Soziologie kommt, schon längst nicht mehr ernst zu nehmen. Es handelt sich bloß noch um verzweifelte Lebenszeichen aus Wolkenkuckucksheim. Derartige kritische Beiträge dienen nur noch der Suche nach Konflikten mit hoher Reproduktionschance und halten sie durch die Erfindung immer neuer Missstände am Laufen. Gerade durch diese Unfähigkeit sich von den lieb gewonnenen Schauermärchen zu verabschieden, wird aber das Potential verschenkt, berechtigte Kritik zu üben. Stattdessen begnügt man sich damit durch das Verweisen auf die eigenen guten Absichten, die Möglichkeiten für Kritik an sich selbst so gering wie möglich zu halten. Durch dieses Beharren auf dem eigenen Erleben kommt es zur Aufwertung der Aktion und der gleichzeitigen Abwertung der Reflexion. Die Missstände werden als so schlimm erlebt, dass irgendetwas getan werden muss, egal was. Glühendes Engagement ist gefragt und keine kühle Distanz. Letzteres führt nur dazu, dass kritische Fragen gestellt und Zweifel an der Sache gestreut werden. Hauptsache der Feind ist klar bestimmbar und die Empörung und der Frust lassen sich auf ihn projizieren. Das bindet die Aufmerksamkeit des Publikums und lenkt von der eigenen Rolle in diesem Spiel ab. Dieses Spiel ist jedoch nicht ohne Risiko. Sobald die Anhänger die Rolle ihrer vermeintlichen Führer entdeckt, kann sie irgendwann selbst die unflektierte Aktion ereilen. Der geweckte Geist der radikalen Kritik wendet sich gegen die, die ihn gerufen haben. Die Revolution frisst ihre Kinder. Heute straft man die Kritiker einfach mit Nichtbeachtung, vermutlich weil der inflationäre Alarmismus zu einem Überdruss beim Publikum geführt hat. Wer ständig „Feuer!“ schreit, wenn es nicht brennt, den wird man irgendwann nicht mehr beachten, selbst wenn es brennt. Und so bewirkt gerade der Versuch einen Konflikt aufzuwerten das Gegenteil, nämlich die Abwertung. Kritischen Soziologen kann man daher nur den Rat geben, ihre eigene Beteiligung an gesellschaftlichen Konflikten zu überdenken, bevor sich Gesellschaftskritik selbst als das eigentliche Problem, nämlich als agent provocateur, vollkommen disqualifiziert hat.

Eines sei aber klargestellt, ich bestreite nicht die Möglichkeit der Kritik. Affirmation ist auch keine Lösung. Ich kritisiere nur die Art und Weise, wie von Seiten der Soziologie Gesellschaftskritik geübt wird.




Literatur
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Szasz, Thomas (2013 [1974]): Geisteskrankheit – ein moderner Mythos. Grundlagen einer Theorie des persönlichen Verhaltens. Aktualisierte und erweiterte Ausgabe Carl-Auer-Systeme Verlag Heidelberg

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