Sonntag, 20. Dezember 2015

Der Islamische Staat - Organisation oder Bewegung?


Auf dem sozialwissenschaftlichen Portal Soziopolis und dem Sozialtheoristen-Blog fand vor einiger Zeit eine Diskussion über einen kurzen Text des Bielefelder Soziologen Stefan Kühl statt, in dem er die These aufstellt, dass der Islamische Staat durch »Verorganisierung« leichter bekämpfbar wird. Da ich im August diesen Jahres auf meinem Blog selbst einen Artikel über die Gemeinsamkeiten zwischen den Phänomenen Amok und Terror veröffentlicht habe, im Zuge dessen auch der Islamische Staat gestreift wurde, habe ich die Diskussion selbstverständlich verfolgt. Außerdem versuchte Kühl die Systemtheorie Niklas Luhmanns in Anschlag zu bringen, um den Islamischen Staat zu beobachten. Das versprach zunächst eine interessante Diskussion. Das Ergebnis fiel leider ziemlich ernüchternd aus. Daher möchte ich im Folgenden einige Anmerkungen machen, die zum einen den Zusammenhang von Organisation und sozialer Adresse und zum anderen das Phänomen Islamischer Staat betreffen. Bevor ich dazu komme, stelle ich Kühls These kurz vor. 


Die »Verorganisierungs«-These

Kühls Ausführungen werden von der Unterscheidung von sozialen Bewegungen und formalen Organisationen geleitet. »Verorganisierung«, so wie ich es nach Kühls Darstellung verstehe, bezeichnet dabei eine Entwicklungstendenz von einer unkoordinierten Bewegung hin zu einer streng formalen Organisation mit klaren sinnhaften Grenzen nach außen und verbindlichen Regeln für die Mitglieder nach innen. Er benennt vier Faktoren, die diese Entwicklung hin zu einer formalen Organisation vorantreiben. Als erstes benötigt der IS schon deswegen eine soziale Adresse, weil er für Unterstützer erreichbar sein muss. Als Beispiel führt Kühl die finanzielle Unterstützung des IS durch Saudi-Arabien oder Katar an. Ohne eine Adresse, wäre diese Unterstützung nicht möglich. Der zweite Faktor ist die Konkurrenz zu vergleichbaren Organisationen in der Region. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit zu einer stärkeren Profilierung des IS, welche zugleich der Werbung neuer Sympathisanten dient und die Legitimität gegenüber den bereits gewonnen Sympathisanten sicherstellt. Drittens brauchen die versprengten Grüppchen europäischer Islamisten einen Ansprechpartner in Form einer ressourcenstarken Organisation, welche die Aktivitäten der kleinen Grüppchen unterstützt und gegebenenfalls koordiniert. Und viertens sei die Staatsbildung das zentrale Motiv des IS gewesen sich zu organisieren, denn Staaten benötigen Organisationen in Form von Ämtern und Behörden.

Die Tendenz zur Organisationsbildung hat nach Kühl zwei ungewollte Nebenfolgen. Zum einen kommt es durch den steigenden Grad formaler Organisation zu einem Gegensatz zwischen dem offiziellen Ziel des IS, die weltweite Unterwerfung der Menschen unter die eigene, vulgarisierte Auslegung des Islams, und den Zielen der Mitglieder des IS. Nicht jeder, der sich im Islamischen Staat engagiert, hat demnach das Ziel, das Islamverständnis des IS weltweit durchzusetzen. Die zweite ungewollte Nebenfolge ist, dass sich der IS durch die »Verorganisierung« in ein Dilemma bringt. Der Islamismus war nach Kühl gerade wegen seines Bewegungscharakters und damit wegen seines geringen Organisationsgrades so attraktiv. Obgleich die proklamierten Ziele sich nur durch einen höheren Organisationsgrad durchsetzen lassen, lässt mit dem steigenden Organisationsgrad die Attraktivität für potentielle Mitglieder nach. Der Vorteil dieser Entwicklungstendenz sei jedoch – das ist Kühls These –, dass sich der IS dadurch besser bekämpfen lässt, weil er durch den steigenden Organisationsgrad eine soziale Adresse bekommt.


Adressbildung durch Organisation oder Organisationsbildung durch eine Adresse?

Letztlich versucht Kühl zu zeigen, warum der IS eine Adresse benötigt und dass diese Adresse gleichsam automatisch durch einen steigenden Organisationsgrad entsteht. Mit dieser Darstellung einer Kausalbeziehung handelt er sich jedoch eine Art Henne-Ei-Problem ein. Mein Ausgangspunkt, um dies zu zeigen, ist der Organisationsbegriff der soziologischen Systemtheorie Luhmanns (vgl. 2000). Organisationsprozesse werden von Luhmann als Kommunikationsprozesse beschrieben, die entweder Entscheidungen anbahnen oder Entscheidungen treffen. Formale Organisationen reproduzieren sich damit durch Entscheidungen. Getroffene Entscheidungen sind die Prämissen für die nachfolgenden Entscheidungen. Soziale Bewegungen sind dem gegenüber noch keine formalen Organisationen. Sie reproduzieren sich damit auch nicht durch Entscheidungsprozesse, die durch die Beteiligung der Mitglieder zustande gekommen sind. Mithin reproduzieren sich soziale Bewegungen nicht durch eine scharfe System/Umwelt-Differenz. Sie reproduzieren sich lediglich über ein bestimmtes Thema bzw. eine bestimmte Position zu diesem Thema - zumeist ablehnend sofern es sich um Protestbewegungen handelt. Es gibt jedoch keine klare personelle Grenze, die durch Mitgliedschaft gezogen wird. Es gibt allenfalls Meinungsführer. Ob jemand die Themenwahl und Zielstellungen einer sozialen Bewegung annimmt und sich möglicherweise selbst engagiert, ist eine persönliche Entscheidung, die gerade nicht durch eine formale Mitgliedschaft mit bestimmten Verpflichtungen motiviert wird, sondern durch persönliche Betroffenheit.

Mit Blick auf die Entwicklung von einer Bewegung zur Organisation stellt sich nun die Frage, was zuerst da war? Gab es zuerst Entscheidungen, die schließlich zur Adressbildung führten oder gab es zuerst eine soziale Adresse, die sich durch Entscheidungen als solche Geltung verschafft? In einer streng systemtheoretischen Diktion müsste die Frage folgendermaßen formuliert werden: kondensiert durch eine geregelte Entscheidungsfindung eine soziale Adresse oder konfirmiert sich eine soziale Adresse durch Entscheidungen? Aus meiner Sicht macht es keinen Sinn sich zwischen einer der beiden Kausalannahmen zu entscheiden. Es findet immer beides statt: die soziale Adresse einer Organisation kondensiert durch Entscheidungen und die getroffenen Entscheidungen konfirmieren die soziale Adresse der Organisation. Analog stellt sich dasselbe Problem auch bei der Bildung der Form einer Person (vgl. Luhmann 2005 [1991]). Weder gilt ausschließlich, dass die Form einer Person als soziale Adresse durch ihr zugerechnete Handlungen kondensiert noch dass ausschließlich die Handlungen die soziale Adresse konfirmieren. Es findet immer beides zugleich statt. Negativ formuliert kann man auch sagen, weder kondensiert eine soziale Adresse ohne Handlungen noch konfirmieren Handlungen etwas ohne soziale Adresse. Ohne das eine gibt es auch nicht das andere.

Dieses rekursive Verhältnis zwischen der Anbahnung und dem Treffen von Entscheidungen und der sozialen Adresse ist eine Spezifizierung des allgemeinen Zusammenhangs von Ereignissen und Systemstruktur. Betrachtet man Kühls These vor dem Hintergrund dieser Annahme, impliziert die Zurechnung von Entscheidungen auf eine entscheidende Instanz nicht automatisch eine leichtere Bekämpfbarkeit dieser Adresse. Im Rahmen eines politischen Konflikts lässt sich ein Gegner nur bekämpfen, wenn er beobachtbar ist. Kann der Gegner nicht beobachtet werden, hat er keine Adresse und kann auch nicht bekämpft werden. Deswegen müssen IS-Sympathisanten in Europa in den Untergrund gehen. Sie vermeiden damit Adressierbarkeit, um der Terrorabwehr und Strafverfolgung zu entgehen. Diese Vermeidungsstrategie muss selbst ein Organisationsziel sein, weil es ansonsten die Operationsfähigkeit des IS in Europa gefährden würde. 

Schon eine Konfrontation der »Verorganisierungs«-These mit den politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen hätte zu einer stärkeren Differenzierung zwischen Europa und dem territorialen Einflussgebiet des IS in Syrien und Irak führen können und damit gleichzeitig zu einer erheblichen Relativierung der These. Eine leichtere Bekämpfung ist mit einer sozialen Adresse also noch längst nicht impliziert, sondern lediglich die Möglichkeit der Bekämpfung. Diese Möglichkeit wird vom IS bereits mitgedacht und in Abhängigkeit von den politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen werden entsprechende Vorkehrungsmaßnahmen getroffen.

Was für die Bekämpfbarkeit gilt, gilt darüber hinaus ebenso für die Konsolidierbarkeit einer Organisation. Auf eine soziale Adresse kann ja nicht nur ablehnend, sondern auch bestätigend reagiert werden. Dies geschieht durch die Unterstützung von Sympathisanten und Mitgliedern. Die Wahrscheinlichkeit für Ablehnung und Bestätigung beträgt jeweils 50 Prozent. Es ist dann eine empirische Frage, wie es gelingt die Wahrscheinlichkeit zugunsten einer dieser beiden Möglichkeiten zu verschieben. An dieser Frage setzt das Theoriestück der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien an (vgl. Luhmann 1997, S. 316ff.). Aktuell ist für mich noch nicht erkennbar, dass sich die Wahrscheinlichkeit zugunsten einer dieser beiden Möglichkeiten verschoben hat. Mithin ist der IS bei der Anwerbung neuer Mitglieder so erfolgreich gerade weil er bekämpft wird. Darauf weisen Miriam Müller und Tobias Hauffe in ihren Kommentaren zur Kühls These ebenfalls hin. Der IS profitiert maßgeblich von seiner Opferrolle und dass er sich trotzdem wie David gegen den übermächtigen Goliath des Westens auflehnt. Mit dieser Selbstbeschreibung wird er für Personen attraktiv, die ähnliche Erfahrungen in ihrem Leben gemacht haben. Dabei muss es sich nicht zwangsläufig um politische Konflikte handeln. Maßgeblich dürfte vor allem das Scheitern in wirtschaftlichen, rechtlichen und intimen Kommunikationszusammenhängen sein. 

Faktisch findet also beides zugleich statt – Bestätigung und Ablehnung. Warum die Bekämpfung des IS durch Adressbildung leichter fallen soll, ist nicht nachvollziehbar, denn parallel läuft auch die Konsolidierung als Organisation. Auch Letzteres gelingt nur mit einer soziale Adresse. Vor dem Hintergrund des zirkulären Verhältnisses von Entscheidungen und sozialer Adresse erscheint Kühls These von der leichteren Bekämpfbarkeit des IS daher äußerst einseitig und beachtet nicht die gleich wahrscheinliche Möglichkeit der Konsolidierung des IS. Kühl asymetrisiert lediglich diesen wechselseitigen, symmetrischen Zirkel und macht daraus eine unidirektionale Kausalbeziehung. Umso leichter kann man dann seiner These widersprechen. Es war daher geradezu erwartbar, dass sich die Kritik an Kühls These vor allem an der leichteren Bekämpfbarkeit des IS entzündet.


Von der Bewegung zur Organisation

Entscheidungen treffen sich nicht von allein, sondern sie kommen nur durch die Beteiligung der Organisationsmitglieder zustande. Die Personen, die an der Entscheidungsfindung beteiligt sind, können daher nicht unbeachtet bleiben. Das gilt aus meiner Sicht erst recht, wenn man die Entwicklung von einer sozialen Bewegung zu einer formalen Organisation beobachten möchte. Die Frage ist dann, wann unkoordinierte Entscheidungen einzelner Personen so viel persönliches Engagement erkennen lässt, dass es aussichtsreich erscheint diese Energien in die formalen Entscheidungswege einer Organisation zu kanalisieren. Aus der Beteiligung an unverbindlichen Aktivitäten kann man sich im Gegensatz zu einer Mitgliedschaft leichter zurückziehen. Wenn Kühl in der »Verorganisierung« einen Faktor für die sinkende Attraktivtät des IS sieht, dann ist damit womöglich die starke Selbstbindung der Mitglieder gemeint, welche die »Verorganisierung« mit sich bringt. Sie wirkt eher abschreckend als anziehend, da sie die persönliche Autonomie einschränkt – ein Wert, der vielen IS-Sympathisanten vermutlich sehr wichtig ist.

Durch die Unterscheidung von sozialer Bewegung und formaler Organisation wird letztlich nur ein Kontinuum für Variationen des Organisationsgrads eröffnet. Die Variationen betreffen die Anzahl der freien Stellen, die Kommunikationswege zwischen diesen Stellen und die Entscheidungsprogramme. Es genügt ein Blick auf wirtschaftliche Organisationen, um zu erkennen, dass die Variationsbreite von Ein-Personen-Unternehmen bis weltweit agierenden Konzernen mit mehreren tausend Mitgliedern reicht. Spannend wird es dann bei der Frage, wie es gelungen ist, dass im Idealfall ein Ein-Personen-Unternehmen zu einem größeren Unternehmen mit mehreren hundert bis tausend Mitarbeitern gewachsen ist. Die Frage stellt sich für politische Organisationen in analoger Weise. Deshalb ist aus meiner Sicht der Organisationsbegriff die Gleitschiene – sofern man darunter die Kommunikation von Entscheidungen und die Kommunikation zur Anbahnung von Entscheidungen versteht –, um die Entwicklung von einer sozialen Bewegung zur formalen Organisation nachzuvollziehen.

Die Unterscheidung von Bewegung und Organisation ist wenig geeignet die Variationen des Organisationsgrades herauszuarbeiten. Der Bewegungsbegriff bekommt seine Bedeutung lediglich durch die Negation dessen, was der Organisationsbegriff bezeichnet. Er kann im Rahmen einer systemtheoretischen Organisationstheorie daher nur ein Rejektionswert sein und bezeichnet alles das, was für eine Theorie formaler Organisationen irrelevant ist. Wie ich versucht habe zu zeigen, werden auch in dem organisationstheoretisch irrelevanten Feld persönlicher Lebensführung Entscheidungen getroffen. Deswegen führt der Hinweis auf die »Verorganisierung« des Islamismus nicht sehr weit. Kühl hat damit lediglich die Systembildungsebene identifiziert, auf der der Islamische Staat operiert [1]. Es kommt aber nicht darauf an, dass organisiert wird, sondern wie. Erst mit der Unterscheidung verschiedener Varianten, wie eine Organisation ausgestaltet ist, wird es gelingen die Entwicklung von einer losen Bewegung zur formalen Organisation zu beschreiben [2]. Wenn ich im Folgenden weiterhin den Bewegungsbegriff benutze, dann im oben erläuterten Sinne. Er soll persönliche Entscheidungen von den Entscheidungen formaler Organisationen unterscheiden. Dann fungiert er nicht als Rejektionswert zur Unterscheidung von organisationstheoretisch relevanten und irrelevanten Phänomenen, sondern zur Unterscheidung zwei idealtypischer Varianten des Organisierens.


Der IS als Parasit der Moderne

Umweltbedingungen

Organisationstheorie allein wird jedoch nicht ausreichen, um die Entwicklung von einer Bewegung zu einer Organisation beschreiben zu können, denn ein Organisationssystem operiert immer in einer gesellschaftlichen Umwelt, zu der es sich in Beziehung setzen muss. Die organisationstheoretisch verengte Sichtweise ist auch in den Reaktionen auf Kühls Text kritisiert worden. In meinem eigenen Text über Amok und Terror habe ich einen gesellschaftstheoretischen Einstieg gewählt, um zu klären für welches soziale Problem Amok und Terror Lösungen sein können. Ich gehe davon aus, dass das soziale Problem die kommunikative Anschlussfähigkeit einer jeden Person ist. Dieses Problem wird durch Inklusion gelöst. Eine Person wird dann für Kommunikation relevant, wenn Beteiligungserwartungen an sie gerichtet werden. Die Inklusion geschieht dann durch die Beteiligung dieser Person selbst, wodurch sie das Bild von ihr, was die anderen Beteiligten von ihr haben, durch ihr Verhalten beeinflussen kann. Unter der gesellschaftsstrukturellen Bedingung funktionaler Differenzierung erfolgt diese Inklusion nicht durch eine zentrale Instanz. Einen Super-Code Inklusion/Exklusion gibt es nicht. Vielmehr hat jedes gesellschaftliche Funktionssystem seine eigenen Regeln für die Beteiligung an Kommunikation entwickelt (vgl. Luhmann 1997, S. 624ff.). Ohne die Beachtung dieser Regeln wird es einer Person nicht gelingen sich erfolgreich an der Kommunikation der gesellschaftlichen Funktionssysteme zu beteiligen.

Eine Konsequenz der modernen Inklusionsmodi ist, dass man für eine Inklusion nicht mehr als ganze Person relevant wird, sondern nur noch partiell mit bestimmten Merkmalen, die für die Inklusion eine Rolle spielen. Für die wirtschaftliche Inklusion ist es irrelevant, welche politische Gesinnung oder welchem religiösen Glauben eine Person anhängt. Diese Merkmale werden höchsten als Störfaktoren relevant, die eine Inklusion eher verhindern als fördern, so z. B. wenn ein Bewerber aufgrund seines muslimischen Glaubens ein frauenverachtendes Verhalten an den Tag legt. So etwas kann dauerhaft das Betriebsklima stören und im Zweifelsfall sticht dann der Glaube als Exklusionsgrund die Eignung für die ausgeschriebene Stelle als Inklusionsgrund, selbst wenn der Bewerber im Vergleich zu den anderen am Besten qualifiziert ist. 

Allgemeiner kann man sagen, dass in formalen Organisationen die Inklusionserwartung enttäuscht wird, die auf eine Anerkennung der ganzen Person abzielt. Mithin schüren aber rechte wie linke Ideologien sowie radikale Spielarten des Islams diese Erwartung. Der Grund dafür ist, dass ihr ideales und angestrebtes Gesellschaftsmodell auf einer hierarchischen Vorstellung der Gesellschaft beruht, an dessen Spitze ein zentrales Inklusionskriterium steht. Solche Kriterien können die biologische Herkunft, die klassenmäße Herkunft oder der religiöse Glaube sein. Sie nähren die Erwartung, dass eine Inklusion der ganzen Person als Deutscher, Arbeiter oder Moslem in die Gesellschaft geleistet werden kann. Wenn die Inklusion über die Entsprechung eines dieser Kriterien läuft, dann entwickelt sich die Differenz von Inklusion und Exklusion tatsächlich zu einer Art Super-Code. Egal ob es sich um politische, religiöse, rechtliche, erzieherische, wirtschaftliche, künstlerische oder intime Kommunikation handelt, sie wird immer auf die Entsprechung hinsichtlich des dominierenden Merkmals zurückgerechnet, wodurch der Super-Code nur eine sehr geringe Fehlertoleranz auf der Inklusionsseite zulässt. Das schränkt wiederum die Beteiligungsmöglichkeiten an all den genannten Kommunikationsformen sehr stark ein. Außerdem reduziert sich die ganze Person dann auf dieses allen Mitgliedern gemeinsame Merkmal, was in einem modernen Verständnis nichts mit Individualität oder Persönlichkeit zu tun hat. Vielmehr werden Menschen durch solche zugeschriebenen und nicht durch eigene Leistungen erworbenen Merkmale auf ein Klischee reduziert [3]. 

Unter der modernen Bedingung funktionaler Differenzierung muss die vormoderne Erwartung, als ganze Person inkludiert zu werden, zwangsläufig enttäuscht werden und erhöht das Risiko dauerhafter Exklusion. Die Situationen, in die sich Personen manövriert haben, die diese Erwartung hegen, erscheinen aus Sicht dieser Personen ausweglos. Unter diesem Eindruck sehen rechts- und linksradikale sowie islamistische Protestbewegungen die alternativlose Lösung in einer gewaltsamen Überwindung dieser Inklusionshürden, wodurch sie dann zwangsläufig zu einer politischen Bewegung werden und schließlich zu einer Organisation wachsen können. Auf die erfahrene Exklusion durch Nicht-Beachtung reagieren die Betroffenen selbst wiederum mit Exklusionsbemühungen durch symbolische oder physische Gewalt oder beidem. 

Der Attraktor für die freiwillige Beteiligung an solchen Organisationen ist das Versprechen auf einen akzeptierten sozialen Status durch ein einfaches zugeschriebenes Merkmal. Solche Ideologien leben von dem Versprechen, dass durch diese Kategorien eine Imagepflege (vgl. Goffman 1986a [1967]) gelingt, die den Sympathisanten durch eigene Leistungen nicht gelingt. Die psychische Funktion solcher Ideologien besteht darin, dass sie die Betroffenen von Verantwortung und Schuld am eigenen Scheitern befreien und diese auf die äußeren und inneren Feinde der Organisation projizieren. Die Ideologie des IS spricht damit den aus persönlichen Erfahrungen gewachsenen Opfernarzissmus (vgl. Edlinger 2015, S. 33f.) [4] der Betroffenen an und liefert ein sozial anschlussfähiges Narrativ, das ihnen eine überpersönliche, gemeinschaftliche Bedeutung verleiht. Über dieses Narrativ gelingt zum einen die symbolische Generalisierung, die potentielle Anhänger zur Annahme des politischen Kommunikationsangebots des IS motivieren soll. Dieses Angebot besteht darin, willkürliche Gewalt als legitimes Mittel im zwischenmenschlichen Miteinander zu akzeptieren. Zum anderen liefert dieses Opfernarrativ die Möglichkeit einer persönlichen Selbstbeschreibung als verhinderten Helden, der durch fremde Mächte davon abgehalten wird ein Held zu sein. 

Das Dilemma des IS 

Zugleich wird die Hoffnung genährt, dass man trotzdem in den Genuss der Errungenschaften der funktional differenzierten Gesellschaft kommen kann. Speziell die technischen Errungenschaften der Moderne werden ausgiebig genutzt, um die eigene vormoderne Weltanschauung zu verbreiten. Was passieren kann, wenn mit den technischen Mitteln der Moderne versucht wird eine vormoderne, hierarchisch differenzierte Gesellschaftsordnung zu errichten, konnte man an den faschistischen und kommunistischen Regimen des 20. Jahrhunderts beobachten. Auch der Islamische Staat hat bereits bewiesen, dass er das Potential zu politischen Säuberungen besitzt. Wenn der IS noch eine gewisse Toleranz gegenüber seinem Personal walten lässt, wenn es die Ideologie nicht vollständig teilt – darauf macht Kühl in seinem Text aufmerksam –, dann ist dies sicherlich kein Hinweis, dass man es beim IS mit einer modernen, ganz normalen Organisation zu tun hat. Offenbar ist der IS noch nicht in der Lage sich vollständig aus Überzeugungstätern zu rekrutieren. Somit muss er bei seiner institutionellen Konsolidierung als Staat noch Kompromisse bei der Mitgliederwahl eingehen, die der islamistische Super-Code eigentlich nicht tolerieren kann. Aber hier lehrt die Geschichte, dass sich dies ändert, sobald die Legitimität gesichert ist. Die politischen Säuberungen der Bevölkerung als auch des Parteiapparates unter Hitler, Stalin und Mao sind Beispiele dafür. Ähnliches kann erwartet werden, sobald der IS seine Macht gefestigt hat.

Selbst wenn der Islamische Staat die Mittel der Moderne nutzt, um seinen politischen Einfluss zu vergrößern, zerstört er damit seine Erfolgsbedingungen, denn er nutzt Mittel, die seine präferierte Gesellschaftsform nicht hervorbringen kann. Die Selbstbeschreibung als »Islamischer Staat« ist ein Versuch sich modern zu geben ohne wirklich modern zu sein. Davon ausgehend, lässt sich die Prognose aufstellen, dass je erfolgreicher der Islamische Staat ist, desto stärker gefährdet er sich damit selbst. Aus diesem Dilemma kann sich der IS nicht befreien. Als Protestbewegung gegen die moderne funktional differenzierte Gesellschaft legitimiert er sich nur durch die radikale Opposition gegen die Moderne. Der Islamische Staat lebt, genauso wie die faschistischen und kommunistischen Regime, von dem, was er bekämpft. Alle diese Regime waren auf einen realen oder illusionären äußeren Feind angewiesen. Der IS ist damit im Sinne von Michel Serres ein Parasit (vgl. 1987 [1980]), genauer ein Parasit der Moderne

Würde es dem IS tatsächlich gelingen sein Ziel zu erreichen, wäre er entweder überflüssig oder einfach uninteressant. Er hätte in den Augen der Anhänger seine Existenzberechtigung verloren. Insofern ist das, was der IS anstrebt zugleich die größte Gefahr für ihn. Deswegen wird er versuchen, den Konflikt mit dem Westen am Laufen zu halten. Nur dadurch kann er bei der Mitgliederwerbung weiterhin auf den Erlebnischarakter der Fronterfahrung setzen. Denn der Islamismus konforme Lebensstil besteht nur aus Verzicht und Langeweile. Frieden wäre das Schlimmste, was dem IS passieren könnte. Damit wird er kaum neue Sympathisanten werben können. Deswegen muss er weiter seine menschenverachtende Ideologie und damit verbunden die Anstiftung zur Gewalt exportieren.

Die Lösung des Dilemmas

Wozu das führt, konnte man an dem Anschlag des islamistischen Pärchens aus San Bernardino am 02.12.2015 sehen. Sie waren beide keine Mitglieder des IS. Der Anschlag war lediglich das Ergebnis privater Entscheidungen. Mit Blick auf dieses Ereignis habe ich weiter oben den organisationstheoretischen Horizont auf persönliche Lebensstilentscheidungen ausgeweitet. Der Anschlag in San Bernardino lässt mich vermuten, dass der IS eine Art Zwitterexistenz zwischen einer globalen sozialen Bewegung, bei der jeder mitmachen kann, und einer lokalen Organisation in Syrien und Irak führen wird. Gerade das macht ihn äußerst schwer bekämpfbar und unberechenbar. Als Organisation wird er sich zu einer Art Propagandaagentur und Tourismusunternehmen für radikale Menschenfeinde aus aller Welt entwickeln, die nach einer ideologischen Heimat suchen, welche ihnen ihre eigenen, psychotischen Wahnvorstellungen und Allmachtsfantasien zur Verarbeitung ihres persönlichen Scheiterns nicht liefern konnten. Zur Kompensation bietet der IS die Hoffnung auf das Erlebnis der ganz persönlichen Heldengeschichte an, die Erlebnisse bereithält, die in der westlichen Kultur weitestgehend verboten sind. Der Dschihad ist selbstverständlich viel reizvoller als die Herausforderungen, die der Alltag der westlichen Kultur bieten kann. Er ist aber auch aufregender als der öde islamistische Alltag. Der Dschihad erlaubt den Tabubruch, der Islamismus konforme Alltag verlangt die bedingungslose Einhaltung der aufgestellten Tabus. Der IS ist daher vermutlich nur durch die action (vgl. Goffman 1986b [1967]) attraktiv, die er seinen Sympathisanten und Mitgliedern bieten kann, obwohl dabei das eigene Leben auf dem Spiel steht. Mit der Exklusionserfahrung geht zumeist ein Entfremdungsprozess vom sozialen Umfeld einher. Diese Entfremdung macht sich für die Betroffenen durch das Gefühl bemerkbar innerlich tot zu sein (vgl. Laing 1976 [1960], S. 55 – 116; Miller 2014 [1979], S. 29ff.). Das eigene Leben erscheint oberflächlich, uninteressant, ohne jeglichen Reiz. Es im Dschihad aufs Spiel zu setzen und der damit verbundene Nervenkitzel verschafft den Betroffenen im Gegensatz dazu vermutlich das Gefühl am Leben zu sein.

Der IS kann es sich daher gar nicht leisten ein Staat im westlichen Verständnis zu werden. Die gefühlsmäßige Diskrepanz zwischen Dschihad und dem Islamismus konformen Alltag ist so groß, dass ihm nichts anderes übrig bleibt als den Dschihad zu einem Lebensstil zu verklären. Dieses sozialpsychologische Problem hat weitreichende gesellschaftsstrukturelle Konsequenzen. Eine Ideologie, die das Leben als Krieger verklärt, bietet eine schlechte Grundlage für jegliche Staatsbildungsambitionen. Die Staaten westlichen Typs stellen die Lösung für ein soziales Problem, die Möglichkeit das Personen ihre Interessen mit Gewalt verfolgen, dar. Physische Gewalt ist für den IS kein Problem, sondern die Lösung. Deswegen wird der IS seine organisatorischen Bemühungen darauf konzentrieren diesen Zwitterstatus zwischen unverbindlicher sozialer Bewegung und verbindlicher Organisation zu pflegen. Das ist die Lösung seines Dilemmas [5]. So kann er weiterhin die Vorteile der Moderne nutzen, um seine vormoderne Ideologie zu verbreiten. Solange es gelingt die Aufmerksamkeit der Sympathisanten und Mitglieder auf den gemeinsamen Feind zu richten und damit zugleich von der eigenen Rolle abzulenken, ist seine Legitimität nicht gefährdet. Die psychische Befangenheit der Anhänger kommt diesem Ziel sehr entgegen.

Wenn ich schreibe, dass es sich der IS eigentlich nicht leisten kann, erfolgreich zu sein, dann soll damit nicht suggeriert werden, dass die Führungskader des IS ihre Situation genauso erleben. Für sie steht sicherlich das Ziel der Staatsbildung im Vordergrund. Es gibt genügend Hinweise auf die Ernsthaftigkeit dieses Vorhabens. Damit läuft der IS jedoch in dieselbe Falle wie der Nationalsozialismus in Deutschland oder die kommunistischen Regime. Während der Nationalsozialismus seine politischen Möglichkeiten durch den Expansionskrieg völlig überspannte, implodierten die kommunistischen Regime an ihrer wirtschaftlichen Impotenz, die wiederum durch die massive politische Einflussnahme hervorgerufen wurde. Welchen dieser beiden Entwicklungspfade der IS einschlagen wird, ist derzeit noch völlig offen. Hinweise gibt es für beide Möglichkeiten. Der IS befindet sich bereits im Krieg mit den Staaten auf dessen Territorium er sich auszubreiten beginnt. Hinzu kommt der provozierte Krieg gegen die westlichen Staaten. Damit läuft der IS Gefahr seine politischen Möglichkeiten ebenfalls zu überspannen oder anders gesagt sich selbst zu überfordern. Sollte das Staatsgründungsprojekt trotzdem gelingen, steht ein langsamer wirtschaftlicher Niedergang wie den kommunistischen Regimen bevor. Der Blick auf vergleichbare Regime wie Iran oder Saudi-Arabien lässt dies ebenfalls vermuten. Der Iran zeichnet sich nicht durch seine besonders hohe Wirtschaftskraft aus. Der politische Einfluss der Religion dürfte dafür eine maßgebliche Rolle spielen. Die Erdölreserven Saudi-Arabiens sind begrenzt und der wirtschaftliche Abstieg bereits jetzt absehbar. Dies gilt auch für den IS, der sich ebenfalls durch den Ölhandel finanziert.

Die einzige Möglichkeit des IS, sich langfristig als Staat zu etablieren, wäre, wenn es gelingen würde die Umweltbedingung funktionaler Differenzierung zu beseitigen. Dann könnte eine technische und gesellschaftsstrukturelle Regression auf sein Niveau gelingen. Es ist allerdings fraglich, ob die regressive Entwicklung auf dem Niveau einer hierarchisch differenzierten Gesellschaft stehen bleibt. Der islamistische Super-Code impliziert von seinem Ideal her, dass die Grenzen von Interaktion, Organisation und Gesellschaft zusammenfallen. Diese Bedingungen wären am ehesten in einer isoliert lebenden Stammesgesellschaft erfüllt. Die brutale Terrorherrschaft funktioniert nur in solch einem System, dass über Anwesenheit eine interpersonelle Kontrolle ermöglicht. Sobald es möglich ist, sich diesem Einfluss zu entziehen, ist die politische Macht bereits gefährdet. Wie das aussehen könnte, wenn die Möglichkeit besteht sich diesem Einfluss zu entziehen, kann man an der massenhaften Flucht aus Syrien sehen – auch wenn sie nicht ausschließlich durch den IS-Terror veranlasst ist. In der Region von Syrien und Irak herrscht durch den Krieg mehr oder weniger Chaos. Und auch in den Nachbarstaaten steht die gesellschaftliche Entwicklung derzeit noch auf dem Niveau hierarchischer Differenzierung. Lokal stehen die Konsolidierungschancen also nicht schlecht.

Weltgesellschaftlich betrachtet, ist dies jedoch nicht der Fall. Die westliche funktional differenzierte Gesellschaft wird für Menschen, die sich nicht nur über Verzicht definieren, immer eine annehmbare Alternative darstellen. Der Konflikt zwischen dem Westen und dem IS gründet letztlich nicht in einer politischen Konkurrenz, sondern in konkurrierenden Lebensstilentwürfen, die beide Gesellschaftsformen anbieten – auf der einen Seite autonom und unabhängig und auf der anderen Seite hilflos und abhängig. An diesem Punkt setzt die Terrorstrategie des IS an. Eine Voraussetzung für den westlichen Lebensstil ist die Sicherheit nicht das Opfer willkürlicher Gewalt zu werden. Um dieses Problem zu lösen, kam es zur Staatenbildung westlichen Typs. Der islamistische Terror zerstört diese Sicherheit und versucht politische Entwicklungen innerhalb des Westens in Gang zu setzen, die eine Rückentwicklung zu einer hierarchisch differenzierten Gesellschaft zur Folge hätten. Die willkürliche Gewaltanwendung soll dazu verleiten, dass die politische Kommunikation alle anderen Formen dominiert. Mit dieser Strategie kann es dem IS nicht darum gehen, sich gegenüber potentiellen Anhängern als das bessere politische System zu präsentieren. Das kann ihm aufgrund des extensiven Gewalteinsatzes nicht gelingen. Deswegen besteht das Ziel vermutlich nur darin, zu zeigen, dass der Westen nicht besser ist als er. Dies soll durch die Terroranschläge erreicht werden. Dabei handelt es sich um Provokationen, mit denen die westlichen Demokratien auf die Probe gestellt werden sollen. Der Beweis, dass sie nicht besser als der IS sind, ist erbracht, sobald sie gegenüber ihren Bürgern zu ähnlichen Mitteln greifen wie der IS. In der Systemkonkurrenz wäre dies ein herber Schlag gegen den Westen und würde seine Attraktivität extrem schwächen.

Um dieses Ziel zu erreichen ist der Zwitterstatus [6] als Organisation und Bewegung aktuell durchaus funktional und nicht nur eine Verlegenheitslösung, um die gesellschaftsstrukturellen Folgen des islamistischen Lebensstils zu mindern. Dieser Status legt eine Art Zentrum-Peripherie-Differenzierung des IS nahe: das organisatorische Zentrum in Irak/Syrien und die Untergrund-Bewegung von Sympathisanten im Westen als Peripherie. In absehbarer Zeit ist aufgrund des Dilemmas, auf funktionale Differenzierung angewiesen zu sein, obwohl man sie eigentlich bekämpft, nicht damit zu rechnen, dass diese Strategie aufgeht. Deswegen wird sich der Zwitterstatus des IS auf lange Sicht wahrscheinlich verfestigen, auch wenn das eigentliche Ziel vom Anspruch her die Weltherrschaft ist. Somit wäre dieser Zwitterstatus nur eine Entwicklungsstation. Nach und nach müsste sich die Peripherie von der Bewegung in eine Organisation wandeln. Derzeit gibt es keine Anzeichen, dass dies in absehbarer Zeit zu erwarten ist. Daher vermute ich, dass der IS möglicherweise bereits jetzt an seine Wachstumsgrenzen gestoßen ist. Er wird wahrscheinlich in dieser Zwitterexistenz verharren bis sich die Attraktivität des Opfernarrativs verbraucht hat. Da Inklusionsprozesse immer auch Exklusionsprozesse mit sich bringen, die für die Betroffenen eine Kränkung bedeuten können, ist auch damit so schnell nicht zu rechnen.


Theorietechnisches Fazit

Für diese kurze Einschätzung habe ich auf sozialpsychologische, interaktions-, organisations- und gesellschaftstheoretische Annahmen zurückgegriffen. Der Vorteil der Annahme, dass Terror eine Reaktion auf Exklusion sei, besteht darin, dass diese gesellschaftstheoretische Annahme in alltäglichen Kommunikationssituationen konfirmiert werden kann, denn die Begriffe »Inklusion« und »Exklusion« bezeichnen reale, beobachtbare Ereignisse. Diese Ereignisse haben nicht nur soziale sondern auch psychische Folgen. Wenn man diese Folgen unbeachtet lässt, bleibt auch der Fortgang der Kommunikation unverständlich, denn dann kann leicht übersehen werden, dass dabei Erwartungshaltungen aufeinander treffen, die historisch unterschiedlichen Differenzierungsformen zugeordnet werden können. Das muss nicht immer so sein. Im Fall des Islamischen Staates scheint mir diese Hypothese aber berechtigt zu sein. 

Mit Organisationstheorie allein ließe sich dieser Konflikt nicht beobachten. Sie würde allenfalls ein Puzzleteil zu einem viel größeren Bild liefern. Ein Puzzleteil allein ist nicht das ganze Bild. Hält man es für das ganze Bild, kann das daran orientierte Handeln fatale Konsequenzen haben. Bei der Vermeidung solcher verzerrten Beobachtungen kommt der große Vorteil der Luhmannschen Systemtheorie zum Tragen, denn sie erlaubt es über den systemtheoretischen Kommunikationsbegriff die drei Ebenen der Systembildung miteinander zu verbinden und die Verbreitung bestimmter Kommunikationsmuster von Interaktionen über Organisationen bis zur Gesellschaft zu verfolgen und ebenso die Veränderungen der Gesellschaftsstruktur und die Rückwirkungen auf die verbreiteten Semantiken. Desweiteren kann auch auf den Vergleich mit ähnlichen historischen und aktuellen Phänomenen nicht verzichtet werden. Die faschistischen und kommunistischen Regime des 20. Jahrhunderts sind funktionale Äquivalente zum politischen Islam. Ein Vergleich kann wertvolle Informationen zum Verständnis des Islamischen Staates liefern.

Ich hoffe, ich konnte die genannten Vorteile zumindest andeuten. Auch wenn der organisationstheoretische Anteil selbst dabei relativ gering blieb, sollte deutlich geworden sein, dass für weitergehende organisationstheoretische Analysen des IS die von mir aufgezeigten psychischen und gesellschaftlichen Umweltbedingungen nicht vernachlässigt werden können, denn sie beeinflussen als unentscheidbare Entscheidungsprämissen sowohl die persönliche Entscheidungsfindung als auch die formaler Organisationen.

In diesem Beitrag habe ich mich hauptsächlich auf funktionale Differenzierung als unentscheidbare Entscheidungsprämisse konzentriert. Bei der Beurteilung des Islamischen Staates darf jedoch auch eine andere unentscheidbare Entscheidungsprämisse nicht außer Acht gelassen werden: das interne Konfliktpotential des Islams. Schaut man sich die Entstehungsgeschichte des Islamischen Staates an, dann wurde seine Gründung weniger durch einen ideologischen Konflikt mit den USA oder den westlichen Demokratien angeregt, sondern durch den Konflikt zwischen der schiitischen Mehrheit und der sunnitischen Minderheit im Irak, der nach dem Abzug der amerikanischen Truppen 2011 durch die mehrheitlich schiitische Regierung des Iraks zur gewaltsamen Eskalation getrieben wurde. Berücksichtigt man diese Geschehnisse stellt sich die Gründung des IS weniger als ein Protest gegen die Moderne, sondern als ein Protest gegen die Exklusionsversuche der Schiiten dar, die ebenfalls eine religiös geprägte Idealvorstellung einer hierarchisch differenzierten Gesellschaft teilen. Dieser Konflikt wird weniger durch theologische Differenzen befeuert, sondern durch die Konkurrenz um Macht und Einfluss in der Region. Die Religion dient dabei nur als Grundlage den exklusiven Machtanspruch zu begründen.




[1] Henrik Dosdall macht in seinem Beitrag dasselbe für die Selbstreferenz des gesellschaftlichen Funktionssystems Politik, dem der IS als Organisation zugerechnet werden muss. Aus einer systemtheoretischen Sicht sind die Beiträge von Kühl und Dosdall insofern ernüchternd, weil beide zusammen nicht mehr machen als den IS als politische Organisation zu beschreiben. Dies kann nicht das Ergebnis einer Analyse sein, sondern allenfalls der Ausgangspunkt.
[2] Die Rede von Varianten habe ich bereits mit Blick auf die Theorie gewählt, mit der weitergearbeitet werden müsste, nämlich der Evolutionstheorie mit der Trias von Variation, Selektion und Restabilisierung (vgl. Luhmann 1997, S. 451ff.). Die unter Systemtheoretikern weit verbreitete Gewohnheit funktionale Äquivalente als »Formen« zu bezeichnen, hat es meinem Eindruck nach verhindert die Verbindung zur Evolutionstheorie zu erkennen und herzustellen.
[3] Die Unterscheidung von zugeschriebenen und durch Leistung erworbenen Merkmalen ist keine systemtheoretische Unterscheidung. Aus systemtheoretischer Sicht, besteht das Problem dieser Unterscheidung darin, dass auch Leistung zugeschrieben wird. Entscheidend ist für mich, dass sich die zugeschriebenen Merkmale, die ich im Blick habe, nicht durch eigene Leistungen konfirmieren können. Ob man Deutscher ist, zeigt sich nicht im Handeln. Für relgiösen Glauben gilt das zwar nur eingeschränkt. Aber gerade hinsichtlich des Verhaltens, dass IS-Mitglieder an den Tag legen, gibt es selbst bei vielen gläubigen Moslems Zweifel, ob das irgendetwas mit dem Islam zu tun hat. Insofern halte ich es für gerechtfertigt zumindest in diesem Fall die Selbstbezeichnung als »islamisch« als ein zugeschriebenes Merkmal zu behandeln. Das soll jedoch nicht heißen, dass der IS oder sein Terror nichts mit dem Islam zu tun haben. 
[4] Thomas Edlinger unterscheidet bei seinem essayistischen Streifzug durch die westliche Kritik- und Protestlandschaft unter anderem die opfernarzisstische Hyperkritik (vgl. 2015, S. 33f.). Ursprünglich als Vertreterin universeller Werte, wie Gleichheit, angetreten, hat sie sich auf die Betonung von Unterschieden versteift. Diese universellen Werte erfüllen die Funktion eine wie immer realistische oder illusionäre Einheitsvorstellung als Selbstbeschreibung zu liefern und diese Einheit ebenso für die Umwelt zu fordern. Umso mehr müssen dann die Unterschiede zum proklamierten Ideal auffallen. Die zugeschriebenen Merkmale biologische oder klassenmäßige Herkunft und religiöser Glaube erfüllen diese Funktion ebenfalls. Gerade durch die Einheitsvorstellung tendieren solche Beschreibungen zur Totalisierung und zur symbolischen und physischen Unterdrückung abweichender Beschreibungen.
Mit dem Kritikmodus der opfernarzisstischen Hyperkritik identifiziert Edlinger vor allem die Bewegung der Postmoderne. Diese hat es jedoch versäumt ihrer Klageformel des Sinnverlusts eine Kompensation zur Seite zu stellen, die diese Leerstelle ausfüllt. Vielmehr wurde der Mangel, das Unvermögen mit einer positiven Wertung versehen und als solche akzeptiert. Dem gegenüber lockt der Islamismus mit dem Versprechen sich im Kampf beweisen zu können und eine persönliche Heldengeschichte zu schreiben. Er verspricht die Befreiung aus den Ketten, die die westliche Kultur den Betroffenen angeblich angelegt hat. Der Mangel wird dabei nicht als solcher akzeptiert, sondern man kann beweisen, dass dieser Mangel nicht auf eigenes Verschulden zurückgeht.
[5] Florian Sander deutet diesen Zwitterstatus in seiner Entgegnung an, wenn er darauf hinweist, dass die NSDAP nach der Machtergreifung versucht hat das Image einer Bewegung zu pflegen, obwohl sie schon längst eine Partei war. Er benennt aber nicht die Funktion dieser Imagepflege, nämlich die Gradwanderung zwischen stratifikatorischer bzw. hierarchischer und funktionaler Differenzierung zu meistern. Meine Vermutung ist, dass die Selbstbeschreibung als Bewegung stärker den sakralen Charakter der gemeinschaftsstiftenden Kategorie betont. Organisationsbildung profanisiert die gemeinschaftsstiftende Kategorie. Sie zerstört den Anschein einer transzendenten und schicksalhaften Macht und macht die Kategorie als menschengemacht beobachtbar. Den Anschein einer Bewegung aufrecht zu erhalten, hatte damit die Funktion den Autoritätsanspruch der Partei zu mystifizieren. Auch dies ist eine zutiefst vormoderne Vorstellung, welche versucht die Spitze der Hierarchie in der Transzendenz zu verankern. 
Man könnte erwarten, dass Semantiken, die sich explizit auf eine Religion berufen, weniger Probleme hätten. Organisation bedeutet aber auch eine Intensivierung der zwischenmenschlichen Kontakte. Im Zuge dessen läuft auch eine Religion Gefahr sich zu entzaubern. Die anti-ritualistischen Bewegungen gegen die institutionelle Erstarrung der Amtskirchen innerhalb des Christentums reagierten über die Jahrhunderte immer wieder auf dieses Problem. Nebenbei bemerkt, war Max Webers berühmte Formel von der Entzauberung der Welt lediglich der sozialwissenschaftliche Nachhall auf den Bedeutungsverlust beider christlicher Konfessionen in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. Die Amtsträger konzentrierten sich mehr um den Erhalt ihrer weltlichen Macht als um die religiösen Bedürfnisse ihrer Anhänger. Entsprechend desillusioniert waren viele Deutschen und flüchteten sich gegen Ende des Jahrhunderts in wissenschaftliche, politische oder ästhetische Theologien, die sich schließlich im Nationalsozialismus zu einer politischen Bewegung formierten.
[6] Einige Leser werden sich möglicherweise fragen, warum ich von einem Zwitterstatus spreche statt den Begriff »Hybrid« zu verwenden, der mit Blick auf soziale Phänomene bereits ausgearbeitet ist. Es ist genau diese Assoziation, die ich vermeiden möchte. Ich habe mich noch nicht sehr intensiv mit diesem Begriff auseinander gesetzt und kann nicht ausschließen, dass es Überscheidungspunkte in den Bedeutungen zwischen meiner Verwendungsweise des Wortes »Zwitter« und dem Begriff »Hybrid« gibt. Der Grund, warum ich trotzdem die Distanz zu diesem Begriff wahren möchte, besteht in dem inflationären Gebrauch des Begriffs. Denkt man das Konzept der Hybriden bis zur letzten Konsequenz, so lautet die Pointe, dass die soziale Wirklichkeit an sich hybrid ist. Der inflationäre Gebrauch des Begriffs macht auf diese Konsequenz aufmerksam. Darin liegt zugleich die heuristische Schwäche des Begriffs. Er erklärt nichts, sondern macht allenfalls auf eine universelle Eigenschaft sozialer Wirklichkeit aufmerksam, mit der jeder Mensch konfrontiert wird und mit der er umgehen muss.
Ein funktionales Äquivalent ist der Komplexitätsbegriff der Luhmannschen Systemtheorie. Auch er erfuhr, weniger durch Luhmann selbst, sondern in der Rezeption, eine ähnliche Konjunktur ohne dass mit diesem Begriff irgendetwas erklärt wurde. Er bezeichnet nur ein Problem. Während Luhmann sich bei der Theoriebildung ausgehend von diesem Begriff, der Frage widmete, wie das Problem einer komplexen sozialen Wirklichkeit durch soziale und psychische Systeme gelöst wird, begnügt man sich in der systemtheoretischen Soziologie nach Luhmann damit soziale Phänomene als komplex zu bezeichnen als ob damit schon etwas erklärt wäre. Als Problembeschreibung ist die Bezeichnung zutreffend. Diese Feststellung allein ist jedoch nicht das Ende der Forschung, sondern der Ausgangspunkt, um die Frage zu klären, wie mit der Komplexität sozialer Wirklichkeit umgegangen wird.
Ähnlich verhält es sich mit dem Hybridbegriff. Die Schwäche der Theorieströmung, die diesen Begriff benutzt, liegt darin, dass sie bisher keine Konzepte entwickelt hat, um die Frage nach dem Wie beantworten zu können. Im Gegenteil, man ist nicht mal in der Lage diese Frage zu stellen. Da Theorien immerhin selbst soziale Phänomene sind, gilt die Problembeschreibung nicht nur für den Forschungsgegenstand, sondern auch für sie selbst. Dass es zumeist bei der reinen Feststellung von Hybridität belassen wird, liegt vermutlich daran, den Rückschluss auf die Theorie selbst zu vermeiden, weil dann die eigene Form des Umgangs mit Hybridität in den Blick käme. Meinem Eindruck nach impliziert der Hybridbegriff den radikalen Zweifel hinsichtlich die Möglichkeit, Erkenntnisse über die Wirklichkeit zu gewinnen. Eine Reflexion würde daher vor allem starke Zweifel an der Wissenschaftlichkeit des ganzen Theorieansatzes wecken. Denn wie will man Wissenschaft betreiben, wenn man nicht daran glaubt, dass es möglich ist, Erkenntnisse über die Welt bzw. den interessierenden Forschungsgegenstand zu gewinnen? Versucht man es trotzdem, wäre das Ergebnis eine Art szientistische Mystifikation des Forschungsgegenstandes. Meiner Meinung nach ist es das, was derzeit mit der Rede von Hybriden gemacht wird.
Deswegen distanziere ich mich von dem Hybridbegriff und den dahinter stehenden, äußerst problematischen wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Prämissen. Über den nichtssagenden Gebrauch von Problembegriffen habe ich mich in meinem Text »Über Sthenographie. Zum Problem von Problembegriffen« schon einmal beschäftigt.


Literatur
Edlinger, Thomas (2015): Der wunde Punkt. Vom Unbehagen an der Kritik. Suhrkamp Verlag Berlin
Goffman, Erving (1986a [1967]): Techniken der Imagepflege. In ders. (Hrsg.): Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. S. 10 – 53 
Goffman, Erving (1986b [1967]): Wo was los ist – wo es action gibt. In: ders.: Interaktionsrituale. Über Kommunikation in direkter Kommunikation. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. S. 164 -292
Laing, Ronald D. (1976 [1960]): Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn. Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Suhrkamp Verlag Frankfurt amMain
Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung. Westdeutscher Verlag Opladen/Wiesbaden
Luhmann, Niklas (2005 [1991]): Die Form „Person“. In: ders.: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. 2. Auflage VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden. S. 137 – 148
Miller, Alice (2014 [1979]): Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst. 29. Auflage Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Serres, Michel (1987 [1980]): Der Parasit. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main

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