Im letzten Jahr hatte ich einen
Erklärungsansatz für die gegenwärtige Krise der Soziologie und für die geringe
öffentliche Aufmerksamkeit der Soziologie vorgestellt. Die Grundthese war und
ist, dass die Soziologie durch den Anspruch, die Gesellschaft analysieren und
verändern zu wollen, eine widersprüchliche Selbstbeschreibung konstruiert. Bei dieser Selbstbeschreibung bleibt unklar, ob die Soziologie dem
Wissenschaftssystem oder dem System sozialer Hilfe zugeordnet werden kann.
Diese These wurde vor dem Hintergrund der Theorie funktionaler Differenzierung
Niklas Luhmanns aufgestellt, wonach die moderne Gesellschaft in verschiedene
Sub- bzw. Funktionssysteme wie Wirtschaft, Politik und eben auch Wissenschaft
und helfende Systeme differenziert ist (vgl. Luhmann 1997). Jedes dieser
Funktionssysteme erfordert es, dass die professionellen Leistungserbringer
jeweils eine andere Leistungsrolle annehmen. Politiker sind keine Priester, Priester sind keine Wissenschaftler, Wissenschaftler sind keine Künstler, Künstler sind keine Politiker usw. Dementsprechend präzisieren sich
auch die Erwartungen der potentiellen Leistungsempfänger. Wer Bauchschmerzen
hat, geht nicht zum Biologen, sondern zum Arzt. Umso mehr muss mit der Zeit
auch eine Selbstbeschreibung auffallen, die eine unklare oder widersprüchliche Leistungsrolle
vermittelt. Man geht nicht gern zu Leuten, bei denen nicht klar ist, ob sie
einen behandeln oder bekehren wollen. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass immer
weniger Menschen eine unklar oder widersprüchlich definierte Leistung
nachfragen. Daraus kann etwas entstehen, was ich Spirale wechselseitiger
Nicht-Beachtung bezeichnet habe. Ein Angebot wird
immer weniger nachgefragt bis es irgendwann komplett verschwindet, weil niemand
mehr daran interessiert ist. Die Widersprüchlichkeit der soziologischen Selbstbeschreibung steigert ihre Ablehnungswahrscheinlichkeit. Weil die Ablehnungswahrscheinlichkeit durch das eigene Verhalten gesteigert wird, handelt es sich dabei um ein Risiko (vgl. Luhmann 2005 [1990]). Aus dem Anspruch, die Gesellschaft verändern zu wollen, ergibt sich
für die Soziologie allerdings noch ein ganz anderes Risiko. Um dieses Risiko
soll es im Folgenden gehen.
Montag, 16. Februar 2015
Sonntag, 1. Februar 2015
Wissen, Massenmedien und partizipierendes Bewusstsein
„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“
Dieser berühmte Satz von Niklas
Luhmann stammt aus seinem Buch "Die Realität der Massenmedien" (2004 [1995], S. 9) und
sollte vermutlich die zentrale Rolle der Massenmedien in der modernen
Gesellschaft betonen. Er suggeriert, dass die Massenmedien heute die einzige Informationsquelle sind, mit
deren Hilfe man sich über die Welt informieren kann. Dieses Zitat vermittelt allerdings in zweierlei Hinsicht ein verzerrtes Bild über die Funktion der Massenmedien in der modernen Gesellschaft.
Zum einen wird die Funktion der Massenmedien maßlos übertrieben. Denn man erlangt
nicht sein vollständiges Wissen über die Welt aus den Massenmedien. Sicherlich
werden einem über die Massenmedien Informationen aus Bereichen zugänglich
gemacht, die einen über persönliche Kontakte kaum erreichen würden. Anderseits
liefern die Massenmedien keine Informationen über den persönlichen
Nahbereich, in dem man Beteiligungs- und Gestaltungsmöglichkeiten hat. Das gilt
für das Privatleben ebenso wie für das Berufsleben. Über die Personen mit denen
man täglichen Umgang hat, erfährt man – außer man hat selbst einen Beruf im
Showbusiness – nichts aus den Massenmedien. Informationen über sie erhält man vorwiegend
durch die Interaktion mit ihnen. Diese Überlegung führt zum zweiten Aspekt des
verzerrten Bildes, das dieses Zitat suggeriert. Das Zitat ist nicht nur eine
Aussage über die Funktion der Massenmedien in der modernen Gesellschaft,
sondern zugleich auch eine Aussage darüber, wie Wissen heute produziert und
verteilt wird. Ich möchte im Folgenden zunächst auf die wissenssoziologische
Hintergrundannahme dieses Zitats eingehen. Diese Annahme korrespondiert mit
einer von zwei existentiellen Grundhaltungen, mit denen Menschen ihrer Umwelt entgegentreten
können. Im zweiten Schritt werden diese beiden Grundhaltungen, die als partizipierendes und nicht-partizipierendes Bewusstsein bezeichnet werden, skizziert. Bestimmte Erfahrungen
zusammen mit dem Fehlen anderer Erfahrungen können die Bildung einer der beiden
Grundhaltungen begünstigen. Auf der Grundlage dieser Überlegungen wird in einem dritten Schritt ein erneuter Blick auf die gesellschaftliche Funktion der Massenmedien
geworfen.
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