Am 10.10.2014 haben ich beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in der Ad-Hoc-Gruppe "Krise der Kommunikation: Wo bleibt der soziologische Diskurs?" einen Vortrag mit dem Titel "Hat sich die Soziologie in einem double bind verfangen?" gehalten. Der folgende Text ist das Vortragsmanuskript. Der Mitschnitt des Vortrags kann hier angesehen werden.
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Herzlich Willkommen zu meinem Vortrag „Hat sich die Soziologie in einem double bind verfangen?“. Der Titel ist als Fragestellung formuliert. Aber die Eine oder der Andere wird es schon geahnt haben. Die Frage ist rhetorisch gemeint. Es ist tatsächlich die These dieses Vortrags, dass sich die Soziologie in einem double bind verfangen hat. Sie bezieht sich auf die weitverbreitete Selbstbeschreibung der Soziologie, wonach sie die Gesellschaft zu analysieren und zu verändern beansprucht. Ich werde im Folgenden versuchen zu zeigen, dass diese beiden Ansprüche unter der gesellschaftsstrukturellen Bedingung funktionaler Differenzierung nicht miteinander vereinbar sind und dass darin einer der wichtigsten Gründe für das schlechte Image und den aktuellen Relevanzverlust der Soziologie zu sehen ist.
1. Der double bind
Die double-bind-Theorie stammt von dem Anthropologen und
Verhaltensforscher Gregory Bateson [1].
Die Idee hinter dem double bind ist
allerdings schon etwas älter. Da wir hier in Trier sind, kann man ruhig darauf
hinweisen, dass bereits Karl Marx mit einer ähnlichen Idee gearbeitet hat.
Er ging ja davon aus, dass der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen
zugrunde gehen wird. Diese Idee, dass ein System an seinen inneren
Widersprüchen zugrunde gehen kann, wurde mit der double-bind-Theorie auf Familien übertragen und beschreibt einen tiefgreifenden
Beziehungskonflikt zwischen den Mitgliedern der Familien. Dieser Beziehungskonflikt
ergibt sich aus einem bestimmten Interaktionsmuster, bei dem eine der
beteiligten Personen eine Verhaltensauffälligkeit zeigt, die als schizophren
bezeichnet wird. Dass dieser Beziehungskonflikt überhaupt entstehen kann, liegt
u. a. daran, dass den Familienmitgliedern keine gemeinsame Sprache zur
Verfügung steht, mit denen sie ihre Beziehung zueinander beschreiben könnten.
Den
double bind kann man als einen
Widerspruch zwischen dem Inhalts- und dem Beziehungsaspekt einer Mitteilung beschreiben.
In der Regel wird der Beziehungsaspekt über den Inhaltsaspekt mit ausgedrückt. Anders
formuliert, mit jeder Mitteilung wird
implizit auch eine Rollenerwartung an den Adressaten kommuniziert. Das gilt
erst recht für explizite Selbstbeschreibungen. Wenn nun die Soziologie den
Anspruch erhebt, die Gesellschaft zu beschreiben und zu verändern, weist sie
damit also auch ihrem außerwissenschaftlichen Publikum eine Rolle zu. Problematisch
wird es, wenn das Publikum sich nicht in die zugewiesene Rolle drängen lässt. Dann
kann es der Soziologie auch nicht gelingen Bestätigung für ihre Rolle zu
erhalten.
2. Die Theorie funktionaler Differenzierung
Um zu zeigen, dass die Ansprüche,
die Gesellschaft zu analysieren und zu verändern, heute unvereinbar sind,
möchte ich nun auf die Umweltbedingung eingehen, in der die Soziologie versucht
mit dieser Selbstbeschreibung anschlussfähig zu bleiben. Dafür greife ich auf
Niklas Luhmanns Theorie funktionaler Differenzierung zurück. Auf dieser Grundlage
wird verständlich, warum diese Selbstbeschreibung vom Publikum als falsches
Image - im Sinne von Erving Goffmann [2] - wahrgenommen wird.
Die double-bind-Theorie
bezieht sich zunächst nur auf Interaktionssysteme. Der große Vorteil der
Luhmannschen Systemtheorie liegt darin, dass sie Interaktionstheorie,
Organisationstheorie und Gesellschaftstheorie miteinander verbindet. Dadurch
eröffnet sich die Möglichkeit die Verbreitung
eines bestimmten Kommunikationsmusters, wie das des double binds, über Interaktionssysteme hinaus, wenn es sein muss, bis zur Ebene der
Gesamtgesellschaft zu verfolgen. Das Verbindungsstück ist diese
Vier-Felder-Matrix:
Luhmann unterschied damit vier
Zurechnungskonstellationen, bei denen es zu Kommunikationsproblemen kommen
kann. An diesen Problemstellungen setzen die einzelnen Funktionssysteme der
modernen Gesellschaft mit ihren Lösungen an. Alle Funktionssysteme lassen sich jeweils
auf ein bestimmtes soziales Problem zurückführen, das jedoch noch nicht mit der Zurechnungskonstellation identisch ist. Es ist noch eine weitere
Präzisierung notwendig. Am präzisesten lassen sich die einzelnen Bezugsprobleme
der Funktionssysteme anhand einer Interaktionssituation beschreiben. Aufgrund
der Kürze der Zeit kann ich nicht auf jedes Bezugsproblem einzeln eingehen [3]. Im Folgenden werde ich
nur die beiden sozialen Probleme erläutern, auf die mit den beiden Ansprüchen
von Gesellschaftsanalyse und -veränderung Bezug genommen wird.
Für jede Problemkonstellation gilt, die
Kommunikation läuft immer von Alter zu Ego bzw. vom Absender zum Adressaten. Entscheidend
ist nicht, was der Absender mit seiner Mitteilung gemeint haben könnte, sondern
welchen Eindruck die Mitteilung auf den Adressaten macht. Es geht also um die
Frage, was kann den Adressaten dazu motivieren
ein Kommunikationsangebot anzunehmen oder anzulehnen. Im Fall der
Soziologie scheint der Grund für eine hohe Ablehnungswahrscheinlichkeit darin
zu liegen, dass die Ansprüche von Gesellschaftsanalyse und –veränderung sich
auf verschiedene soziale Probleme beziehen, die unterschiedliche Lösungen
erfordern.
2.1 Das Bezugsproblem der Wissenschaft – Alter erlebt -> Ego erlebt
Gesellschaftsanalyse erhebt
eindeutig einen wissenschaftlichen Anspruch. Das Bezugsproblem der Wissenschaft
besteht darin, dass der Absender sein Erleben mitteilt und die Annahme davon
abhängt, ob der Adressat aufgrund der Mitteilung den Eindruck hat genauso zu
erleben wie der Absender. Die Annahme wissenschaftlicher Kommunikation gelingt
nur über die methodische Überprüfung. Nur wenn der Adressat nachvollziehen
kann, warum der Absender etwas so sieht, wie er es sieht, erscheint seine Mitteilung annehmbar. Dafür muss der Absender die Theorien und Methoden explizit mit angegeben, die ihn zu einem bestimmten Forschungsergebnis geführt haben. Die
Theorien und Methoden bilden eine Art Anleitung, wie man genauso erleben kann wie der Absender. Auch wenn sich das praktisch häufig äußerst schwierig gestaltet, trotzdem ist die methodische Überprüfbarkeit entscheidend. Denn nur
sie sichert die Nachvollziehbarkeit der mitgeteilten Informationen und schließt es aus, dass es sich nur um das
eigenwillige Erleben einer einzelnen Person handelt.
2.2 Das Bezugsproblem personenverändernder Systeme – Alter erlebt -> Ego handelt
Auf die Veränderung, genauer die Veränderung von Personen, haben sich so verschiedene Systeme wie
Krankenbehandlung, soziale Hilfe oder Psychotherapie spezialisiert. Das Problem
bei der Personenveränderung besteht darin, dass der Absender sein Erleben
mitteilt und der Adressat aufgrund dieses Erlebens handelt. Das Erleben, um das es in diesem
Falle geht, ist das Selbsterleben des Absenders als hilfsbedürftig.
Bei körperlichen Verletzungen ist die Hilfsbedürftigkeit aufgrund der
Sichtbarkeit der Verletzungen noch relativ leicht nachzuvollziehen. Schwieriger
wird es schon bei Beschwerden, die keine sichtbaren Symptome zeigen. Ebenso
schwierig gestaltet sich dann auch die Auswahl geeigneter Behandlungsmethoden.
Dieses Problem macht sich nirgends so stark bemerkbar, wie in der
Psychotherapie. Allgemein lässt sich sagen, bei allen Systemen der
Personenveränderung treten Probleme auf sobald Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung als hilfsbedürftig nicht übereinstimmen. Und damit man bei der Feststellung der
Hilfsbedürftigkeit nicht nur auf das subjektive Erleben der
Betroffenen angewiesen ist, benötigt man Wissenschaft – und bei der Entwicklung
geeigneter Behandlungsmethoden erst recht.
3.1 Warum es kein Funktionssystem zur Gesellschaftsveränderung geben
kann
Ein vergleichbares
Funktionssystem zur Veränderung der Gesellschaft gibt es dagegen nicht. Versteht
man, wie die Systemtheorie, unter Gesellschaft die Gesamtheit der stattfindenden
Kommunikation, reden wir heute nicht von Deutschland oder Europa, sondern von
der weltumspannenden Kommunikation. Und es stellt sich die Frage: wie soll die eigentlich geändert werden? Milliarden von tagtäglichen Kommunikationsereignissen können
nicht einfach geändert werden. Das ist schlicht unmöglich. Hinzu kommt
weiterhin, dass keine Gesellschaftsveränderung von statten gehen würde, ohne
die betroffenen Menschen mit zu verändern. Denn ohne Menschen ist Kommunikation
nicht möglich. Wenn aber eine direkte Gesellschaftsveränderung nicht möglich
ist, dann ist der Weg für Gesellschaftsveränderungen bereits vorgezeichnet. Er läuft
nur über die Veränderung von Personen.
3.2 Die Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und helfenden Systemen
Damit heute keine Maßnahmen zur
Personenveränderung voreilig umgesetzt werden, hat sich inzwischen eine Arbeitsteilung
zwischen der Wissenschaft und den helfenden Systemen entwickelt. Diese gestaltet sich
wie folgt. Helfende Kommunikation benötigt bestimmte Soll-Werte, auf die sie
hinarbeitet, um eine Person als verändert, d. h. als nicht mehr hilfsbedürftig,
betrachten zu können. In diesem Sinne beruht jede Personenveränderung auf einer
normativen Grundlage. Doch um zu wissen was realistische Soll-Werte sind, nach
denen man sich richten kann, muss man wissen, was möglich ist. Hier kommt die
Wissenschaft ins Spiel. Durch wissenschaftliche Arbeit lässt sich feststellen, was ist und was
auf dieser Grundlage noch als erreichbares Ziel definiert werden kann.
Wissenschaft begrenzt also durch ihre Arbeit den Operationsspielraum helfender Kommunikation.
Sie greift damit aber nicht selbst in die Operationen helfender Systeme ein. Für
die Beurteilung des Veränderungsanspruchs der Soziologie ist dies entscheidend.
Gesellschaftsveränderung, wie sich das viele Soziologen vorstellen, ist praktisch
unmöglich. Das soll allerdings nicht heißen, dass die Soziologie nicht in der
Lage wäre soziale Veränderungen anzuregen.
3.3 Wie verändert die Soziologie die Gesellschaft
Unmöglich ist lediglich eine
direkte Gesellschaftsveränderung. Indirekt kann ihr das durchaus gelingen.
Durch soziologische Forschung sollte eigentlich das Wissen über die
Funktionsweise der Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden, mit dem es dann, u. a.
den helfenden Systemen, möglich ist ihre Arbeit zu allseitiger Zufriedenheit zu
erledigen. Dazu muss die Soziologie aber auch genauso aufnahmebereit sein, wenn
Kritik an dem zur Verfügung gestellten Wissen geäußert wird. Soll es wirklich
darum gehen anderen Menschen zu helfen, dann kann es in der Soziologie nicht
mehr darum gehen irgendwelche unerreichbaren Utopien zu erfinden.
Unrealistische Erwartungen führen zu inadäquaten Lösungen, die am Ende mehr
Schaden anrichten als Nutzen bringen. Gerade das scheint einer der wichtigsten Gründe zu sein,
warum die Soziologie heute ein Imageproblem hat. Sie stellt häufig kein Wissen
mehr zu Verfügung mit dem es noch möglich wäre anderen Menschen zu helfen. Das
kann sich nur ändern, wenn sie ihren wissenschaftlichen Anspruch wieder
ernstnimmt. Handwerklich gute Analysen machen eine effektive Hilfe möglich. Der
Soziologie muss es also gelingen methodisch geprüftes Wissen zur Verfügung zu
stellen, aus dem sich auch Operationsmöglichkeiten für helfende Kommunikation
ableiten lassen.
Voraussetzung dafür ist jedoch,
dass der Anspruch, die Gesellschaft verändern zu wollen, aufgegeben wird. Im
Kontext der Theorie funktionaler Differenzierung wird deutlich, dass es sich
dabei nicht nur um eine praktische Unmöglichkeit handelt, sondern auch um eine gravierende
Fehlinterpretation der eigenen gesellschaftlichen Rolle. Die Krise des
soziologischen Diskurses lässt sich im Wesentlichen aus dieser Rollenvermischung erklären. Die
Soziologie ringt gegenwärtig nur noch um den Beziehungsaspekt bzw. ihre eigene
Identität, ohne dass es ihr darüber hinaus noch möglich wäre irgendetwas in der
Sache beizutragen. Der Grund dafür liegt darin, dass heute in der Soziologie
überwiegend Theorien verbreitet sind, die keine Sprache zur Verfügung stellen, mit
der sich die Beziehung der Soziologie zu ihrer Umwelt beschreiben ließe. Außerdem
ist die funktionale Differenzierung an der sozialen Umwelt der Soziologie nicht
spurlos vorbei gegangen. Das soll heißen, von der Soziologie als Wissenschaftsdisziplin wird heute
überhaupt nicht erwartet, dass sie die Gesellschaft verändert. Der helfende
Anspruch kann im Kontext dieser Erwartungshaltung nur als falsches Image
wahrgenommen werden, denn er widerspricht dem wissenschaftlichen Anspruch.
3.4 double bind & die
Spirale wechselseitiger Nicht-Beachtung
Entsprechend wenden sich dann immer weitere Teile des
Publikums von der Soziologie ab. Den daraus entstehenden Prozess habe ich in meinem Vorabtext für den Blog
des Soziologiemagazins als Spirale wechselseitiger Nicht-Beachtung beschrieben.
Aufgrund der Zeit kann ich auch darauf nicht weiter eingehen. Kurz gesagt, es kommt zu einer langsamen Exklusion
der Soziologie. Es muss aber betont werden, dass das Interaktionsmuster des double binds nur zwischen den Teilen der
Soziologie und den Teilen des Publikums besteht, die noch an diesen
Doppelanspruch der Soziologie glauben. Die sinkende Anschlussfähigkeit ist
eigentlich nur ein Nebeneffekt dieses double
binds.
4. Fazit
Ich hoffe, ich konnte etwas
plausibel machen, dass die Soziologie sich in einem double bind verfangen hat und nun langsam an den widersprüchlichen
Erwartungen, die sie selbst verbreitet hat, zugrunde geht. Der innere
Widerspruch der Soziologie besteht in dem Doppelanspruch von
Gesellschaftsanalyse und -veränderung. Dieser Widerspruch kann auch nicht
aufgelöst werden. Vielmehr ist eine klare Abgrenzung als Wissenschaftsdisziplin
notwendig, welche nur durch eine ständige Reflexion des Verhältnisses zur
Umwelt erreicht werden kann. Gelingt ihr das, wird es ihr auch gelingen soziale
Veränderungen anzuregen. Denn für das Anstoßen sozialer Veränderung muss die
Soziologie nur das tun, was ihre gesellschaftliche Funktion ist, nämlich Wissenschaft
betreiben und die Forschungsergebnisse verbreiten. Man sollte sich allerdings
auch darüber im Klaren sein, dass man über die Anwendung des zur Verfügung
gestellten Wissens keine Kontrolle hat.
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit!
Link zur zitierfähigen Version im Tagungsband zum 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
Link zur zitierfähigen Version im Tagungsband zum 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
[1] Vgl. Bateson, Gregory (1981 [1972]):
Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie. In ders. (Hrsg): Ökologie des
Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische
Perspektiven. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. S. 270 – 301
[2] Vgl. Goffman, Erving (1986 [1967]): Techniken der Imagepflege. In ders. (Hrsg.): Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. S. 10 – 53
[2] Vgl. Goffman, Erving (1986 [1967]): Techniken der Imagepflege. In ders. (Hrsg.): Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. S. 10 – 53
[3] Die Zeitvorgabe war 10 - 15 Minuten. Ausführlichere
Erläuterungen zu allen Bezugsproblemen finden sich in meinem Aufsatz „Die
Beobachtung der Beobachtung 3.1 –
Funktionale Differenzierung“.
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