Über
Sthenographie habe ich, verteilt über meine bisherigen Texte, schon einige Bemerkungen
gemacht [1]. Mit »Sthenographie« ist eine problemfokussierte
Betrachtungsweise gemeint. Probleme werden heute sprachlich zumeist in die Form einer Paradoxie gebracht.
Sthenographie zeichnet sich dadurch aus, dass die konstruierte Paradoxie nicht
entfaltet wird, sondern nur offen zur Betrachtung dargeboten wird. Paradoxien
sind jedoch logische Anomalien. Sie verwirren den Geist, weil sie
Widersprüchliches behaupten. Es kann ja nicht sein, dass Gegenteiliges zugleich
gilt. Dies macht die Präsentation einer Paradoxien zu einer Darstellungsmethoden, die beim geneigten Publikum
eine Menge Schaden anrichten kann.
Bisher habe ich mich bei der Rede von Sthenographie in meinen Texten vorwiegend auf sozialwissenschaftliche Problembeschreibungen konzentriert, deren Zweck es ist bei den Adressaten einen politischen Handlungsdruck zu erzeugen. Häufig werden die Probleme dann in einer Art säkularisierten Theodizee-Frage formuliert. Statt »Wie kann Gott dieses ganze Leid auf der Welt zulassen?« heißt es nun »Wie kann die Gesellschaft dieses ganze Leid auf der Welt zulassen?«. Doch anstatt dann Lösungen für die kritisierten Probleme vorzustellen, belässt man es beim Offenlegen der Paradoxie. Die Gesellschaft ist schuld. So einfach ist das. Einige werden sich von solchen Argumentationsfiguren sicherlich angesprochen fühlen und denken, wenn so viele Menschen auf der Welt leiden, wie kann es mir selbst dann gut gehen? Da man im Alltagsverständnis ja selbst irgendwie Teil der Gesellschaft ist, wird man ratlos und mit einer Menge Schuldgefühlen allein gelassen. Und bevor es den anderen Menschen nicht gut geht, kann bzw. darf es einem selbst auch nicht gut gehen.
Für die seelische Gesundheit sind solche Denkfiguren sicherlich nicht förderlich. Aber was kann man in solch einer Situation tun? Da man selbst nichts tun kann, muss die Politik ran. In ihrer Macht liegt es die Gesellschaft zu kontrollieren - so glaubt man zumindest. Und Politiker haben ja heute immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte ihrer Bürger. Man kann sogar unerfüllbare Forderungen an sie herantragen. Da die Politiker um jede Stimme kämpfen müssen, sind die meisten heute zu schwach auch mal klar zu sagen, was nicht in ihrer Macht liegt. Dann lässt es sich umso besser unerfüllbare Forderungen stellen. Das entlastet zum einen. Zum anderen können sich die besorgten Bürger dann wieder an dem süßlichen Gift der Paradoxie berauschen und ihren Sorgen neue Nahrung geben. Im schaurig-schönen Hochgefühl der Angstgemeinschaftlichkeit lässt es sich dann wieder umso besser neue unerfüllbare Forderungen aufstellen.
Der Teufelskreis ist geschlossen. Mit der Lösung der unlösbaren Probleme dürfen sich dann die Politiker rumschlagen. Und wenn sie es nicht schaffen, kann man sie wunderbar der Lüge bezichtigen. Der postmoderne Erstarrungstanz um das goldene Kalb der Paradoxie hat begonnen. Bei diesem Spiel ohne Gewinner handelt es sich nur um die populärste Form der Sthenographie. In diesem Beitrag soll es um Sthenographie in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen gehen.
Bisher habe ich mich bei der Rede von Sthenographie in meinen Texten vorwiegend auf sozialwissenschaftliche Problembeschreibungen konzentriert, deren Zweck es ist bei den Adressaten einen politischen Handlungsdruck zu erzeugen. Häufig werden die Probleme dann in einer Art säkularisierten Theodizee-Frage formuliert. Statt »Wie kann Gott dieses ganze Leid auf der Welt zulassen?« heißt es nun »Wie kann die Gesellschaft dieses ganze Leid auf der Welt zulassen?«. Doch anstatt dann Lösungen für die kritisierten Probleme vorzustellen, belässt man es beim Offenlegen der Paradoxie. Die Gesellschaft ist schuld. So einfach ist das. Einige werden sich von solchen Argumentationsfiguren sicherlich angesprochen fühlen und denken, wenn so viele Menschen auf der Welt leiden, wie kann es mir selbst dann gut gehen? Da man im Alltagsverständnis ja selbst irgendwie Teil der Gesellschaft ist, wird man ratlos und mit einer Menge Schuldgefühlen allein gelassen. Und bevor es den anderen Menschen nicht gut geht, kann bzw. darf es einem selbst auch nicht gut gehen.
Für die seelische Gesundheit sind solche Denkfiguren sicherlich nicht förderlich. Aber was kann man in solch einer Situation tun? Da man selbst nichts tun kann, muss die Politik ran. In ihrer Macht liegt es die Gesellschaft zu kontrollieren - so glaubt man zumindest. Und Politiker haben ja heute immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte ihrer Bürger. Man kann sogar unerfüllbare Forderungen an sie herantragen. Da die Politiker um jede Stimme kämpfen müssen, sind die meisten heute zu schwach auch mal klar zu sagen, was nicht in ihrer Macht liegt. Dann lässt es sich umso besser unerfüllbare Forderungen stellen. Das entlastet zum einen. Zum anderen können sich die besorgten Bürger dann wieder an dem süßlichen Gift der Paradoxie berauschen und ihren Sorgen neue Nahrung geben. Im schaurig-schönen Hochgefühl der Angstgemeinschaftlichkeit lässt es sich dann wieder umso besser neue unerfüllbare Forderungen aufstellen.
Der Teufelskreis ist geschlossen. Mit der Lösung der unlösbaren Probleme dürfen sich dann die Politiker rumschlagen. Und wenn sie es nicht schaffen, kann man sie wunderbar der Lüge bezichtigen. Der postmoderne Erstarrungstanz um das goldene Kalb der Paradoxie hat begonnen. Bei diesem Spiel ohne Gewinner handelt es sich nur um die populärste Form der Sthenographie. In diesem Beitrag soll es um Sthenographie in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen gehen.
Speziell Sozial- und Geisteswissenschaftler zeichnen sich häufig durch einen inflationären Gebrauch von Problembegriffen aus. Und auch in wissenschaftlichen Diskussionen entfalten sie ihren lähmenden
und zugleich destruktiven Zauber. Wer meine Texte kennt, hat sicherlich schon
bemerkt, dass ich sehr engagiert für gewisse Positionen eintrete. Dies wird
häufig so verstanden als wäre ich mir meiner Sache absolut sicher und werde
gelegentlich darauf hingewiesen, dass man das in dieser Sicherheit gar nicht sagen
könne. Gleichwohl behaupte ich nicht einfach irgendwelche Sachen, sondern
versuche meine Positionen nachvollziehbar argumentativ zu begründen. Ob das mit
der Nachvollziehbarkeit immer so klappt, wie ich mir das vorstelle, sei mal
dahin gestellt. Aber immerhin gebe ich durch die Argumentation eine
Angriffsfläche, an der sich jeder versuchen kann. D. h. auch wenn es schwer
aussieht, so besteht doch die Chance, dass man mich mit den richtigen
Argumenten überzeugen kann.
Umso ärgerlicher finde ich es dann, wenn jemand versucht in meine Position mit Argumenten – sofern man das überhaupt so bezeichnen kann – mit dem Hinweis reinzugrätschen versucht, dass man das mit dieser Gewissheit gar nicht sagen kann. Ärgerlich sind solche Einwände insofern, weil der Bezug zum eigentlichen Thema fehlt, denn zumindest ich habe nie den Anspruch auf absolute Gewissheit erhoben. Wo ich diese vermeintliche Gewissheit hernehme, erfährt man, wenn man sich auf meine Argumente einlässt. Deswegen weckt ein solcher Einwand den Verdacht, dass derjenige, der diesen Einwand äußert, keine Lust hat, sich mit den im Raum stehenden Argumenten auseinander zu setzen.
Und die eigentlich spannende Frage ist, was soll man auf so einen Einwand antworten? Wenn die Antwort »Ja« sein sollte, ist die Diskussion zu Ende. Denn dann relativiere ich mit der Zustimmung meine Position, obwohl keine Notwendigkeit dazu besteht, und gebe damit dem Kritiker recht. Wenn die Antwort »Nein« sein sollte, geht die Diskussion erst richtig los – aber bestimmt nicht mehr über das eigentliche Thema. Ein solcher Einwand ist also eine Art Joker, den man in jeder Diskussion bringen kann, wenn zum aktuellen Thema nichts mehr gesagt werden soll. Unbestimmtheit, Komplexität, Kontingenz, Unsicherheit, Unentscheidbarkeit etc. sind alles Begriffe, die ein bestimmtes Problem bezeichnen und die gerne benutzt werden. Obwohl ich mit systemtheoretischen Konzepten arbeite, nervt es mich inzwischen, wenn jemand irgendwas als komplex bezeichnet. Denn eine solche Attribution besagt eigentlich nichts und zeigt nur, dass der Betreffende sich über die Bedeutung dieses Begriffs nicht bewusst ist. Daher fühle ich mich dazu veranlasst an dieser Stelle ein paar grundsätzliche Bemerkungen zur Verwendung von wissenschaftlichen Problembegriffen zu machen, da sich viele offenbar weder der erkenntnistheoretischen noch der kommunikativen Funktion von Problembegriffe im Klaren sind.
Umso ärgerlicher finde ich es dann, wenn jemand versucht in meine Position mit Argumenten – sofern man das überhaupt so bezeichnen kann – mit dem Hinweis reinzugrätschen versucht, dass man das mit dieser Gewissheit gar nicht sagen kann. Ärgerlich sind solche Einwände insofern, weil der Bezug zum eigentlichen Thema fehlt, denn zumindest ich habe nie den Anspruch auf absolute Gewissheit erhoben. Wo ich diese vermeintliche Gewissheit hernehme, erfährt man, wenn man sich auf meine Argumente einlässt. Deswegen weckt ein solcher Einwand den Verdacht, dass derjenige, der diesen Einwand äußert, keine Lust hat, sich mit den im Raum stehenden Argumenten auseinander zu setzen.
Und die eigentlich spannende Frage ist, was soll man auf so einen Einwand antworten? Wenn die Antwort »Ja« sein sollte, ist die Diskussion zu Ende. Denn dann relativiere ich mit der Zustimmung meine Position, obwohl keine Notwendigkeit dazu besteht, und gebe damit dem Kritiker recht. Wenn die Antwort »Nein« sein sollte, geht die Diskussion erst richtig los – aber bestimmt nicht mehr über das eigentliche Thema. Ein solcher Einwand ist also eine Art Joker, den man in jeder Diskussion bringen kann, wenn zum aktuellen Thema nichts mehr gesagt werden soll. Unbestimmtheit, Komplexität, Kontingenz, Unsicherheit, Unentscheidbarkeit etc. sind alles Begriffe, die ein bestimmtes Problem bezeichnen und die gerne benutzt werden. Obwohl ich mit systemtheoretischen Konzepten arbeite, nervt es mich inzwischen, wenn jemand irgendwas als komplex bezeichnet. Denn eine solche Attribution besagt eigentlich nichts und zeigt nur, dass der Betreffende sich über die Bedeutung dieses Begriffs nicht bewusst ist. Daher fühle ich mich dazu veranlasst an dieser Stelle ein paar grundsätzliche Bemerkungen zur Verwendung von wissenschaftlichen Problembegriffen zu machen, da sich viele offenbar weder der erkenntnistheoretischen noch der kommunikativen Funktion von Problembegriffe im Klaren sind.
Die Totalisierung der Perspektive durch Problembegriffe
Wissenschaftliche
Problembegriffe, wie die eben genannten, sind totalisierend. Totalisierend bedeutet, dass sie keine Ausnahme zulassen. Man kann sie
auch als globale Rahmen (vgl. de Shazer 2012 [1988], S. 117f.) bezeichnen. Die
Totalisierung wird dadurch erreicht, dass der gesamte interessierende
Phänomenbereich vereinheitlicht wird. Komplexität bezeichnet z. B. den
Sachverhalt, dass in einer gegebenen Menge von Elementen nicht mehr jedes
Element mit jedem anderen kombiniert werden kann. Es gibt also Beschränkungen
der Kombinierbarkeit (vgl. Luhmann (2011 [2002], S. 168). Dann gilt es
herauszufinden, welche Regeln oder Regelmäßigkeiten zu diesen Beschränkungen führen.
Man kann die denkbaren Kommunikationsmöglichkeiten, die die Gesellschaft
bietet, auch als eine solche Menge betrachten, aus der sich Formen, die
tatsächlichen Kommunikationsereignisse, bilden. Da die Formbildung keine
willkürliche Kombinierbarkeit aller möglichen Formen zulässt, kann man auch die
Gesellschaft als komplex beschreiben. Auf diese Weise gelingt es zunächst
jegliche Unterschiede im Phänomenbereich zu eliminieren. Alle interessierenden
Phänomene können dann unter einem einzigen Gesichtspunkt betrachtet werden.
Damit hat man die höchste mögliche Generalisierungsstufe erreicht. Doch da das
auf diesem Wege gefundene Merkmal auf alle Phänomene zutrifft, hat es keinerlei Erklärungswert. Die Phänomene
kommen nicht in ihrer Spezifik, sondern in ihrer Allgemeinheit, also dem alles
verbindenden Merkmal, in den Blick. Dieses Merkmal besitzen die Phänomene aber
nicht wirklich, sondern es handelt sich zunächst nur um die Beschreibung eines
Beobachters.
Das Problem einer
solchen totalen Sichtweise ist, dass sie aufgrund der Konzentration auf die
Gemeinsamkeiten die Unterschiede zwischen den Phänomenen invisibilisiert und
damit den Beobachter gleichsam blind für diese Unterschiede macht. Deswegen
besagt zumindest in der Soziologie die Attribution »komplex« nichts,
sondern macht nur auf ein methodologisches Problem aufmerksam und es gilt
nun die Kombinationsregeln und damit auch die Kombinationsbeschränkungen zu
identifizieren. Die Problemkonstruktion liefert damit den
Gesichtspunkt, unter dem die Auswahl des methodischen Zugangs getroffen wird.
Wenn diese Auswahl unterbleibt, wurde auch nur die Paradoxie zur Betrachtung
angeboten. Das ist ungefähr so als ob man wegen Zahnschmerzen zum Zahnarzt geht
und der Zahnarzt weist lediglich darauf hin, dass alle Menschen Zähne haben. So
richtig diese Feststellung auch ist, welchen Sinn hat sie in dieser Situation?
Die Zahnschmerzen werden davon mit Sicherheit nicht gelindert. Desweiteren
haftet ihr aus der Sicht des Patienten eine beunruhigende Ambivalenz an. Wenn
alle Menschen Zähne haben, dann können auch alle Menschen Zahnschmerzen haben. Und
was könnte das bedeuten? Man weiß nicht, ist die Bemerkung im Kontext von Hilfsbedürftigkeit
als Trost zu verstehen oder zynisch gemeint in dem Sinne, dass man sich nicht
so anstellen soll. Je nach Kontext der Situation kann die Ambivalenz des
Hinweises inhaltlich variieren. Trotzdem lässt sich die Ambivalenz selbst nicht
eliminieren, denn es bleibt offen, welche Alternative gemeint sein könnte. Die Entscheidung über die
Deutung wird dem Adressaten überlassen. Insofern sind solche Allgemeinplätze selbst nur ein Hinweis auf den Kontext, also das
Problem, ohne sich auf den konkreten Fall einlassen zu müssen. Etwas Falsches
hat man mit solch einem Hinweis sicherlich nicht gesagt. Aber heißt das schon,
dass man etwas Richtiges gesagt hat?
Sthenographie als Katalysator von Konsens und Dissens
Dieses Problem
gewinnt im Hinblick auf wissenschaftliche Diskussionen eine besondere Brisanz.
Was bewirkt eine Mitteilung, wie ein bestimmtes soziales Phänomen oder gar die
ganze Gesellschaft sei komplex? Sofern alle Beteiligten mit dieser Attribution
einverstanden sind, wird damit nur auf das Bekannte und Offensichtliche
hingewiesen. In diesem Fall hat man nichts Falsches gesagt und man hat eine
gute Grundlage für einen Konsens. So
zieht man die Aufmerksamkeit vom Thema ab und lenkt sie auf sich als Person. Man
erntet mit solch einer Bemerkung also zunächst einmal leichten Zuspruch. Teilen
dagegen nicht alle Beteiligten die Problemformel, wird der Dissens sehr wahrscheinlich offengelegt. Auch damit zieht man die
Aufmerksamkeit vom Thema ab und lenkt sie auf die Abweichler. In der Praxis
passiert immer beides. Es zeigt sich, wer zustimmt und wer ablehnt. Allgemeine
Problemformeln kann man daher auch als eine Art Katalysator betrachten, die die
Reihen nach innen schließen und zugleich ein klares Außen bestimmen lassen. Das
gilt sicherlich nicht nur für wissenschaftliche Diskussionen. Konsens oder
Dissens durch Allgemeinplätze sind zunächst nur idealtypische Alternativen, die
jedoch die ambivalente soziale Funktion solcher Allgemeinplätze verdeutlicht.
Gleichwohl kann es, selbst wenn man einer Problemformel, wie Komplexität, zustimmt
– so wie ich es tue –, zu einem Dissens kommen, gerade wenn man sich der ambivalenten
sozialen Funktion solcher allgemeinen Problemformeln bewusst ist. Das Problem
der totalisierenden Problemformeln besteht eben darin, dass sie in jedem Fall von den Erkenntnisobjekten ablenken. Wenn
das Erkenntnisobjekt aus dem Blick gerät, dann ist es auch nicht möglich eine
wissenschaftliche Beobachtungsweise zu entwickeln.
Ist man sich
dieses Problems bewusst, entsteht der Verdacht, dass vielen die heuristische Funktion von
totalisierenden Problemformeln nicht bewusst ist. Die Offenlegung der Paradoxie
durch eine vereinheitlichende Perspektive auf den Phänomenbereich ist die
Voraussetzung, um dann durch die Auswahl und Anwendung einer geeigneten Methode
wieder Unterschiede beobachten zu können. Der entscheidende Punkt ist, dass man
durch diese Vorgehensweis immer vor eine
Entscheidung gestellt wird. Die Problemformel Komplexität, so wie Luhmann
sie vorgestellt hat, macht auf diesen Sachverhalt explizit aufmerksam, nicht
nur im Hinblick auf totalisierende Problembegriffe [2]. Ja, der
Kommunikationsstrom, genannt Gesellschaft, ist komplex. Man kann ihn mit einer
beliebigen Unterscheidung beobachten und so auf bestimmte Aspekte aufmerksam
machen. Dieser Sachverhalt wird in der soziologischen Systemtheorie als Polykontexturalität bezeichnet. Das
bedeutet, man kann denselben Sachverhalt in verschiedenen Kontexten betrachten
und der Sachverhalt erhält in jedem Kontext einen anderen Sinn. Ein Sachverhalt
ist damit immer mehrdeutig und nicht uneindeutig. Welcher Sinn ihm dann
zugeschrieben wird, hängt vom jeweiligen Beobachter ab. Ich habe an anderer
Stelle statt von Polykontexturalität von der Multifunktionalität der Kommunikation
gesprochen. Diese Multifunktionalität der Kommunikation ist heute, weil sie
überwiegend noch nicht als Problem erkannt wurde, zu einem gravierenden Problem
sozialwissenschaftlicher Theoriebildung geworden. Egal ob man nun von
Polykontexturalität der Gesellschaft oder der Multifunktionalität der
Kommunikation spricht, in jedem Fall wird auf den Fakt hingewiesen, dass ein
psychischer Beobachter immer vor die Wahl gestellt wird, mit welchen
Unterscheidungen er beobachten möchte. Jeder psychische Beobachter bzw. jeder
Mensch wird vor diese Wahl gestellt, woraus sich die Tendenz zu einer Divergenz des psychischen Erlebens
ergibt und zu einem sozialen Problem
wird. Mit anderen Worten, gleichsinniges Erleben ist ein extrem
unwahrscheinlicher Fall und identisches Erleben praktisch unmöglich.
Verständigungsprobleme sind demnach gut wie vorprogrammiert. Die
Wahrscheinlichkeit für Dissens und Konflikte ist also relativ hoch.
Kommunikationsbeteiligung kann diese divergente Entwicklung zwar nicht
aufhalten, aber zumindest entgegenwirken. Es ist dann eine empirische Frage, wie
mit diesen Konflikten umgegangen wird.
Sthenographie als Ausweichstrategie
Das Funktionssystem
Wissenschaft ist eine Lösung, die die Gesellschaft für dieses allgemeine
soziale Problem entwickelt hat. Eine wissenschaftliche Betrachtungsweise ist aber
nur eine von vielen und sie muss ihre Wissenschaftlichkeit im Unterschied zu
den anderen zeigen. Das Alleinstellungsmerkmal der Wissenschaft ist die intersubjektive Nachvollziehbarkeit durch
methodische Überprüfung. Man könnte auch sagen, die Wissenschaft hat die
ausgefeiltesten Beobachtungsmethoden entwickelt, um der allgegenwärtig
drohenden Divergenz des psychischen Erlebens der Menschen entgegen zu wirken.
Vor diesem Hintergrund lässt sich die Ambivalenz von wissenschaftlichen Problembegriffen
weiter erschließen. Wie bereits dargestellt, kann man, sofern alle Beteiligten
diese Sichtweise teilen, relativ leicht Zustimmung erhalten und Konsens
herstellen. Wenn jedoch das Problem der Wissenschaft das ständig drohende
Divergieren des psychischen Erlebens ist, so wird auf diese Weise von diesem
Problem abgelenkt – wenn nicht sogar der Eindruck erzeugt wird, es sei gelöst.
Denn Zustimmung und Konsens sind Anzeichen für den Eindruck gleichsinnigen
Erlebens, also einer Konvergenz des psychischen Erlebens. Der Konsens über die gemeinsam geteilte Problemkonstruktion ist zwar kein wirklicher Beitrag zur Lösung des
Bezugsproblems der Wissenschaft, kann es aber ziemlich wirkungsvoll
invisibilisieren. Kann man sich dagegen nicht darauf verlassen, dass ein
Konsens über die Problemformel herrscht, dann kann sich ein solcher Hinweis als
Katalysator erweisen, der das Problem, also die Divergenz des psychischen
Erlebens der Beteiligten, erst richtig offenlegt und für alle sichtbar macht.
Auch in diesem Fall tendiert die weitere Diskussion dann dazu die
Aufmerksamkeit vom Thema auf die Beteiligten zu verlagern. Dies ist aber nur
ein Aspekt des Problems.
Wie die
Geschichte der Wissenschaften zeigt, haben sich im Laufe der Zeit einige Ansätze
als geeigneter erwiesen als andere. Gleichwohl steht es immer noch jedem offen
seinen Anatz zur Diskussion zu stellen, um in der vergleichenden Konkurrenz mit anderen Ansätzen ihre
Wissenschaftlichkeit zu beweisen. Selbstverständlich ist dies heute nicht mehr
voraussetzungslos möglich, sondern man sollte die Konkurrenz kennen, um
genügend Reibungsfläche, also Anschlussmöglichkeiten, zu bieten. Diese
Anschlussmöglichkeiten bieten sich weder bei völligem Konsens noch bei völligem
Dissens. Bei völligem Konsens ist bereits alles gesagt, bei völligem Dissens
gibt es nichts mehr zu sagen. Um im Wettbewerb der Beobachtungsweisen bestehen
zu können, muss ein bestimmter Ansatz bei bekanntem Wissen
ansetzen, um genügend Redundanz bzw. Verstehenschancen zu bieten, zum anderen
aber auch Variationen in der Art der Beobachtung anbieten, um Neues sichtbar zu machen. So
macht die beobachtende Person durch ihre Beobachtungsmethode auf der einen Seite auf
sich aufmerksam. Ist die Methode handwerklich gut gemacht, lenkt sie auf der
anderen Seite die Aufmerksamkeit trotzdem auf das Erkenntnisobjekt und
motiviert über die methodische Überprüfbarkeit zu Annahme oder Ablehnung. In
der Praxis ist dann weder vollständige Zustimmung noch vollständige Ablehnung
sehr wahrscheinlich, sondern man kann nur noch sehr differenziert dazu Stellung
nehmen. Wenn Allgemeinplätze aber nur Zustimmung oder nur Ablehnung
katalysieren, dann ist ein angenehmer Nebeneffekt, dass man auf diese Weise der Konkurrenz mit anderen Perspektiven aus
dem Weg gehen kann. Mit anderen Worten, der Gebrauch von Allgemeinplätzen ist unter
Wettbewerbsbedingungen auch eine Ausweichstrategie, um dem Vergleich mit
konkurrierenden Perspektiven aus dem Weg zu gehen. Es wird stattdessen eine defensive Haltung eingenommen, was die Weiterentwicklung dieser Ansätze zum Stillstand bringt.
Wenn der Einsatz
von Problemformeln eine Ausweichstrategie ist, stellt sich die Frage, wieso die
betreffende Person es nötig hat dem Wettbewerb aus dem Weg zu gehen? Ist sie
nicht in der Lage die heuristische Funktion des Problembegriffs zu nutzen, um
davon ausgehend ein Beobachtungsinstrumentarium zu entwickeln, damit Unterschiede
sichtbar werden, die wissenschaftlich einen Unterschied machen? Hat man es vielleicht mit einem strategischen Einsatz der Problemformel zu tun, um andere
Zwecke als wissenschaftliche zu verfolgen? Konsens hilft dabei die
Schwachpunkte der eigenen Argumentation durch die Überbetonung der
Gemeinsamkeiten zu verbergen. Nettigkeiten hemmen darüber hinaus die Kritikfähigkeit der
Anderen. Dissens hilft dagegen Erkenntnisprobleme als politische Probleme zu
rekontextualisieren. Denn gerade die offensichtliche Uneinigkeit scheint eine
politische Entscheidung umso notwendiger zu machen [3]. Religiöse Dogmatik wäre
eine andere Möglichkeit die Uneinigkeit der Wissenschaft zu kompensieren. Wie
auch immer, obwohl der Dissens konstitutiv für Wissenschaftskommunikation ist,
kann die dadurch erzeugte Unsicherheit als Negativbeispiel benutzt werden, um
das Bedürfnis nach erkenntnismäßiger Sicherheit und Eindeutigkeit zu nähren,
was die Präferenz für nicht-wissenschaftliche Lösungen fördert, die diese
Sicherheit und Eindeutigkeit versprechen. Der Gebrauch von totalisierenden
Problembeschreibungen kann also entweder ein Hinweis auf methodologische Unwissenheit [4] oder ein Hinweis auf außerwissenschaftliche Kalküle sein.
Was auch immer dann tatsächlich der Fall sein sollte, in einem wissenschaftlichen
Kontext wirft dies kein gutes Licht auf die betreffende Person. In beiden
Fällen gibt es gute Gründe dem Wettbewerb aus dem Weg zu gehen, denn andersfalls würde
sich sehr schnell herausstellen, was tatsächlich der Fall ist.
Man kann also
mit dem unreflektierten Gebrauch von Problembegriffen in wissenschaftlichen
Diskussionen sehr viel Schaden anrichten. Daher ist es umso wichtiger die
heuristische Funktion herauszustellen. Dies kann je nach Problemformel
unterschiedlich ausfallen. Es bedeutet aber immer eine Entscheidung vor dem
Hintergrund anderer Möglichkeiten zu treffen. Mit der Entscheidung macht man
sich als Beobachter selbst wiederum beobachtbar und die action (vgl. Goffman 1986 [1967]) kann losgehen, denn man macht
sich angreifbar für Kritik und die wird es mit fast hundertprozentiger
Sicherheit geben. Vor dem Hintergrund postmoderner Entscheidungs- und
Selbstbindungsaversionen, die einem infantilen Geltungsbedürfnis in Verbindung
mit einer geradezu manischen Angst davor, Fehler zu machen, zu entspringen
scheint, seien noch ein paar Anmerkungen gemacht, um diese Ängste zu
zerstreuen.
Die Problemkonstruktion als Wegscheide zwischen Wissenschaft, Politik und Massenmedien
Die Verbreitung
wissenschaftlicher Erkenntnisse erfolgt letztlich in den Medien Sprache und
Schrift. Es sei in diesem Zusammenhang nochmals daran erinnert, dass Begriffe
das Bezeichnete nicht abbilden oder repräsentieren, sondern es nur ermöglichen
das Bezeichnete ausschnitthaft zu erfassen. Die Systemtheorie spricht in diesem
Zusammenhang von Komplexitätsreduktion.
Eine vollständige, umfassende Beschreibung eines Phänomens ist daher unmöglich,
was die Notwendigkeit einer Entscheidung umso mehr forciert. Eine entsprechende
Erwartung, dass eine vollständige Beschreibung und Erklärung möglich sei, ist
schlicht unrealistisch. Wenn man nun lediglich naiv mit dem Problembegriff das interessierende
Phänomen bezeichnet, so kann das nur bei einem Adressaten verfangen, der immer
noch auf eine schlichte Lösung dieses Problems hofft. Das Phänomen soll z. B.
einfach erscheinen und nicht komplex. Wird nicht die heuristische Funktion des
Problembegriffs dargestellt, so lädt man damit lediglich den Begriff negativ
auf und schürt auf diese Weise selbst die Hoffnung auf einfache Lösungen. Auch
wenn man sich der Aussichtslosigkeit dieser Hoffnung bewusst ist, zerstreut die
Verwendung des Problembegriffs nicht diese Hoffnung, sondern frustriert
lediglich den Adressaten mit der Aussichtlosigkeit auf die Erfüllung dieser
Hoffnung. Hierbei handelt es sich dann um eine wissenschaftliche Form der
Sthenographie. In dieser Hoffnungslosigkeit ist es verführerisch zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass es besser wäre entweder auf Sprache zu verzichten oder
eine strenge Sprachpolitik zu betreiben, die diktiert, wie etwas zu bezeichnen
ist. Beide Lösungen kommen in der Wissenschaft nicht ernsthaft in Betracht, was
jedoch nicht heißt, dass es nicht doch in der einen oder anderen Weise versucht
wird. Man denke hier zum einen an die immer stärkere Vermischung zwischen Wissenschaft und Kunst, um Methoden der nicht-sprachlichen Wissensproduktion zu
entwickeln. Das läuft dann zumeist unter dem Label »Subjektivierung«. Hier kann ich nur immer wieder an Ludwig Wittgensteins Diktum erinnern:
„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ (2003 [1922], S.
111) Was leider in den postmodernen Diskursen trotz ihrer Ambitionen auf
nicht-sprachliche Erkenntnismethoden nicht geschieht. Vielmehr muss man die
hervorgebrachten Belanglosigkeiten erst recht sprachlich ausschmücken, damit
sich jemand dafür interessiert [5]. Wie Sprachpolitik aussieht kann man sich im
Dunstkreis der Gender Studies anschauen. Auch wenn immer wieder betont wird,
dass es sich nur um Vorschläge handelt, die andere Möglichkeiten aufzeigen
sollen, wird mit einer Vehemenz darauf rumgeritten, dass ernsthafte Zweifel
aufkommen, ob es wirklich nur Vorschläge sein sollen. Wenn es nur Vorschläge
sein sollten, dann kann man die ja auch getrost wieder vergessen [6]. Es wird jedoch alles daran gesetzt, dass dies nicht geschieht.
Diese Angst, dem
Beobachtungsgegenstand durch die eigenen Beobachtungen nicht gerecht zu werden, kann
man sich vielleicht auch dadurch nehmen, dass man sich vergegenwärtigt, dass
Beobachten, wie bereits dargestellt, letztlich nichts anderes bedeutet als die
Komplexität des Beobachtungsgegenstandes zu reduzieren. Nicht, dass die Gesellschaft komplex ist, ist
entscheidend, sondern wie die Komplexität
durch Kommunikation reduziert wird. Wer jedoch den Mut zu eigenen Beobachtungen
nicht aufbringt und die dadurch erzeugte Aufmerksamkeit scheut, sollte davon
absehen Wissenschaftler zu werden. Womit allerdings nicht gesagt sein soll,
dass die Unfähigkeit zu beobachten nicht auch in außerwissenschaftlichen
Zusammenhängen Probleme erzeugt. Es sollte aber klar sein, dass man einem
beobachteten Gegenstand nicht vollständig gerecht werden kann. Dieser Umstand
sollte trotzdem nicht als Ausrede dienen, es an der notwendigen Sorgfalt in der
Beobachtung fehlen zu lassen. Kurz gesagt, man kann nicht nicht beobachten, weil man ansonsten nichts sehen würde und
zugleich handlungsunfähig wäre. Auch deswegen reicht es nicht, bloß auf
Problembegriffen herumzureiten. Der Verweis auf das Problem macht eben nur auf
das Problem aufmerksam, ohne eine Lösung präsentieren zu können. Auf diese
Weise wird nur eine fatalistische Problemorientierung gefördert. Was
man tun kann, weiß man dann noch längst nicht. Sollte das Problem, also die
offenliegende Paradoxie, als Ausgangspunkt für weitere Theoriebildung genommen
werden, ohne dass sie entfaltet wurde, ist das Ergebnis auch nur eine Aneinanderreihung
weiterer nichtssagender Allgemeinplätze, welche die Problemorientierung
verstärken ohne dass der Erkenntniswert dadurch gesteigert wird. Eine weitere Möglichkeit wäre sich vorwiegend auf die negativen, aber noch nicht eingetretenen Folgen einer möglichen Entwicklung zu konzentrieren und die negativen Folgen als zwangsläufige Entwicklungen darzustellen. Die Ungewissheit der Zukunft wird auf diese Weise zur bedrohlichen Gewissheit umgedeutet. Von der Totalisierung eines Problems zur Prophezeiung eines neuen Totalitarismus ist es dann nicht mehr weit. Ein Vorteil
von Problembeschreibungen gerade bei Diskussionen mit einem
nicht-wissenschaftlich informieren Publikum ist, dass sich relativ viele intuitiv
darauf einigen können - das aber nicht analytisch, sondern emphatisch. Das kann man wohl als das Erfolgsgeheimnis der
Feuilleton-Soziologen betrachten und lässt sich auf die Formel »state the
obvious« bringen. Der Dissens tritt zu Tage sobald die Frage nach möglichen
Lösungen aufkommt. Mit Lösungsverschlägen bietet man eine Angriffsfläche für
Kritik. Deswegen belässt man es lieber bei Allgemeinplätzen und genießt die
Aufmerksamkeit. Mit den damit aufgeworfenen Problemen sollen sich andere herumschlagen.
Das weckt zumindest den Verdacht, dass diejenigen Personen weder
wissenschaftliche noch politische Ziele verfolgen, sondern sehr viel persönlichere. Das würde zumindest die
starke Problemorientierung vieler Soziologen erklären, denn Probleme erzeugen Aufmerksamkeit.
Der Blick in den Abgrund kann nicht alles sein
Es sollte
deutlich geworden sein, Beobachten heißt nicht nur Unterscheidungen treffen,
sondern, sobald die eigene Beobachtungsweise durch Diskussionen bewusst
geworden ist, heißt das auch Entscheidungen treffen. Wirkliche Theoriearbeit
geht erst an diesem Übergang von Unterscheidungen zu bewussten Entscheidungen
los. Unterschiedliche Theorien haben unterschiedliche Problembeschreibungen als
Ausgangspunkt. Entsprechend bieten sie unterschiedliche Lösungen der
selbstgeschaffenen Probleme an. Ein wichtiger Hinweis für handwerklich
einigermaßen solide Arbeit ist daher, dass überhaupt Angebote gemacht werden –
und zwar in methodologischer Hinsicht. Ich bevorzuge meinen eigenen Theoriemix,
der sich im Wesentlichen an systemtheoretischen Ideen orientiert. Mit den Ergebnissen
erhebe ich keinen Anspruch auf absolute Gewissheit. Ich nehme lediglich eine
bestimmte Beobachtungsposition ein, zeichne ein bestimmtes Bild und schaffe
eine Diskussionsgrundlage, an die man inhaltlich anschließen kann oder auch
nicht. Man möge mir allerdings nicht mit dem reinen Verweis auf allgemeine
Probleme kommen, denn das schafft keine Diskussionsgrundlage, sondern zerstört
sie allenfalls. Nötig wäre stattdessen eine begriffliche Differenzierung
entlang der Frage, wie man selbst diesem Problem begegnen möchte. Sofern dies
nicht geschieht, sind totalisierende Problembegriffe nur Pseudo-Argumente.
Für mich ist das
Angebot einer Lösung schon eine Frage der Redlichkeit. Es ist völlig
inakzeptabel dass Sozial- und Geisteswissenschaftler mit Problemkonstruktionen
die Ängste ihres Publikums schüren, sich aber dann damit herausreden, es sei
nicht ihre Aufgabe Lösungen anzubieten – weder in methodologischer noch in
politischer Hinsicht. Es war noch niemals die Aufgabe der Wissenschaften Angst
zu verbreiten. Wer keine Lösungen für die selbstgeschaffenen Probleme anbieten
kann, sollte es unterlassen überhaupt mit seinen Problemen hausieren zu gehen. Problembegriffe fördern keine Lösungsorientierung und bringen
die Diskussion inhaltlich nicht voran. Sie hängen sich vielmehr an Formfragen
auf und verkennen, dass es gar keine andere Möglichkeit gibt als zu beobachten.
Ich verzichte daher auf erkenntnistheoretische Zweifel, die mit totalisierenden
Problembegriffen gefördert werden – man denke hier nur an das postmoderne
Narrativ oder, wie Luhmann es nannte, die Klageformel des Sinnverlusts (2011
[2002], S. 236) –, und setze lieber auf die Methode von Versuch und Irrtum, um
meine Begriffe zu schärfen. Der Sinnverlust ist die Folge, wenn man sich nur auf das Problem fokussiert und sich von der dadurch erzeugten Unsicherheit einnehmen lässt – ein verlässlicher Weg die Ratio zu korrumpieren. Für mich ist entscheidend, wie präzise man mit einer
Beobachtungsweise seine Aufmerksamkeit auf einen Sachverhalt richten kann, um
ihn in seinen verschiedenen Facetten begreifen zu können. Auf diese Weise wird
weder absolute Gewissheit noch Wahrheit erreicht. Es geht lediglich darum sein
Erleben durch Beobachten so zu strukturieren, dass es einen in die Lage
versetzt effektiv in Bezug auf den Sachverhalt zu handeln. Nur das macht
Wissen, egal ob wissenschaftlich oder nicht, intersubjektiv nachvollziehbar [7].
[1] In
Stenographie steckt »Stheno«.
Dabei handelt es sich um den Namen einer der drei Gorgonenschwestern. Siehe zur
programmatischen Bedeutung der Gorgonenmetapher und von Sthenogaphie für meine Blogs die Einleitung von »Die
Beobachtung der Beobachtung«.
[2] Betrachtet
man Komplexität selbst als totalisierende Problembeschreibung und berücksichtigt,
dass damit auf die Notwendigkeit zu einer methodologischen Entscheidung
hingewiesen wird, dann zeigt sich darin das autologische Moment dieses
Problembegriffs im Hinblick auf Konstruktion und Methodologie der Luhmannschen
Systemtheorie.
[3] Als ein Beispiel
für solch einen Versuch der Rekontexualisierung von wissenschaftlichen
Problemen als politische Probleme ist Bruno Latour zu nennen. In »Eine neue
Soziologie für eine neue Gesellschaft« (2010 (2005]) leitet er unverhohlen aus
einer soziologischen Theorie – man muss wohl besser sagen, aus dem, was Latour
für eine soziologische Theorie hält – politische Ziele ab. Siehe dazu
ausführlicher »Naiver
Konstruktivismus – oder wie Latour Bateson auf den Kopf stellt«.
[4] Dass in der
Soziologie in dieser Hinsicht einiges im Argen zu liegen scheint, darauf hatte
ich im meinem Text »Die
Dummheit der Soziologen« versucht mit einem kognitivistischen Argument
aufmerksam zu machen.
[5] Zur
Beziehung von Wissenschaft und Kunst sei Thomas S. Kuhns »Bemerkungen zum
Verhältnis von Wissenschaft und Kunst« (1978 [1967]) empfohlen. Kuhn weist
darauf hin, dass die Artefakte, die im Rahmen der wissenschaftlichen Arbeit
anfallen, um zu bestimmten Forschungsergebnissen zu kommen, aufgrund ihrer Ähnlichkeiten zu
Kunstwerken bei Künstlern zu der Ansicht geführt haben, dass wissenschaftliche Arbeit Kunst
sei. Vereinfacht ausgedrückt, wurden die wissenschaftlichen Mittel zum Zweck der Kunst umgedeutet. Man könnte auch sagen, das Bild,
das viele Künstler von der Wissenschaft haben, beruht auf einem
Missverständnis. Im Anschluss daran verstehen sich viele Künstler auch als Wissenschaftler. Dieses Missverständnis beginnt inzwischen als postmoderne
Bewegung auf das Wissenschaftssystem zurückzuwirken und es zu korrumpieren. Im
Zuge dessen werden die Artefakte wissenschaftlicher Arbeit zum eigentlichen
Zweck der Wissenschaft umgedeutet – was im üblichen Verständnis von
Wissenschaft bedeuten würde, dass die Artefakte zu Mitteln ohne
wissenschaftlichen Zweck geworden sind. Handeln ohne Ziel und ohne Zweck ist
jedoch sinnloses Handeln. Das gilt dann auch für die Artefakte, die im Laufe
dieses Prozesses entstehen. Fatal wird es, wenn diese Vorstellung von Handeln
zum Sozialmodell erhoben wird. Das ist jedoch von der postmodernen Bewegung
geleistet worden und erklärt die große Erzählung der Postmoderne vom Sinn- und
Wissensverlust.
[6] Siehe zu den
menschenverachtenden Grundlagen des Feminismus und der Gender Studies meinen
Text »Genderneutralität
und Sprachzerstörung«. Wie feministische
Sprachinterventionen in der Praxis aussehen, kann auf Bonjour Tristesse in dem
entlarvenden und zugleich sehr unterhaltsamen Erlebnisbericht »Ein
Satz mit X – das war wohl nix!« nachgelesen werden.
[7] Das Thema
Wissen habe ich ausführlich in »Die
Beobachtung der Beobachtung 3.3 – Wissen in der modernen Gesellschaft«
behandelt.
Literatur
De Shazer, Steve (2012 [1988]): Der Dreh. Überraschende Wendungen und
Lösungen in der Kurzzeittherapie. 12. Auflage Carl-Auer-Systeme Verlag
Heidelberg
Goffman, Erving (1986 [1967]): Wo was
los ist – wo es action gibt. In:
ders.: Interaktionsrituale. Über Kommunikation in direkter Kommunikation.
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. S. 164 -292
Kuhn, Thomas S. (1978 [1969]):
Bemerkungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst. In: ders.: Die
Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte.
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. S. 446 – 460
Latour, Bruno (2010
[2005]): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Suhrkamp Verlag
Frankfurt am Main
Luhmann, Niklas (2011 [2002]):
Einführung in die Systemtheorie. 6. Auflage Carl-Auer-Systeme Verlag Heidelberg
Wittgenstein,
Ludwig (2003 [1922]): Tractatus logico-philosophicus.
Logisch-philosophische Abhandlung. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
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