Der aktuelle Ansturm von Flüchtlingen auf Deutschland ist ohne Zweifel historisch beispiellos. Vergleiche mit früheren Völkerwanderungen tragen schon deswegen nicht, weil es damals noch keine modernen Nationalstaaten mit festen Staatsgebieten und den dazugehörigen Grenzen gab. Die aktuelle Situation stellt für alle Betroffenen einen Notstand dar. Häufig wurde auch von einem Ausnahmezustand gesprochen. Mit dem Begriff des Ausnahmezustands ist bis heue ein Name untrennbar verbunden: Carl Schmitt. Schmitt war ein Verfassungsrechtler, der in der Zeit von 1933 bis 1945 eine zweifelhafte Karriere im nationalsozialistischen Deutschland gemacht hat. Trotzdem besitzen viele seiner Überlegungen zu Politik und Staat auch heute noch eine gewisse Relevanz. Selbst einige linke Theoretiker greifen Schmitts Überlegungen auf. Sofern von einem Ausnahmezustand die Rede ist, kann man inzwischen darauf warten, dass sein Name fällt [1]. Ich nutze daher die Gelegenheit und prüfe im Folgenden, ob es sich bei der Flüchtlingskrise um einen Ausnahmezustand im Schmitt’schen Sinne handelt.
Souveränität als politische Autonomie
Das berühmteste Schmitt-Zitat ist das
Folgende, welches man zunächst als eine Definition des Soveränitätsbegriffs
verstehen kann:
»Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.«
(Schmitt 2015 [1922], S. 13)
Souveränität bezeichnet in diesem Zitat die Fähigkeit eine Entscheidung zu treffen. In diesem Sinne entspricht
Souveränität dem, was ich als Autonomie
bezeichne. Autonom ist, wer zwischen
selbst geschaffenen Alternativen entscheiden kann. In diesem Punkt
konvergiert der Autonomiebegriff mit dem Freiheitsbegriff. Entscheiden kann man
sich nur zwischen mindestens zwei Alternativen.
Freiheit hat man nur im Rahmen dieser Alternativen. Die Alternativen begrenzen
die Entscheidungsfreiheit. Freiheit ohne Grenzen ist letztlich undenkbar, denn ohne Alternativen ist keine Entscheidung
möglich.
Absolute bzw. grenzenlose Freiheit ist daher nur ein naives Verständnis von Freiheit, weil es verkennt, wovon sich Freiheit unterscheidet und dass Freiheit ohne ihr Gegenteil nicht bestimmbar ist. Trotzdem wird in öffentlichen Diskussionen immer wieder mit diesem naiven Verständnis von Freiheit argumentiert, was die Verbreitung eines leeren Freiheitsbegriffs fördert. Diejenigen, die diese absolute Vorstellung von Freiheit für plausibel halten, werden durch diese Vorstellung entscheidungs- und handlungsunfähig. Daraus resultiert, nebenbei bemerkt, die häufig beklagte Überforderungserfahrung (vgl. Ehrenberg 2008 [1998]).
Ebenso wenig kann man von Souveränität bzw. Autonomie sprechen, wenn nur eine Option zur Verfügung steht. Dann kann man sich zwar immer noch zwischen der Ausführung oder der Unterlassung entscheiden, trotzdem ist eine Alternative wie keine Alternative. Wenn die scheinbare Alternativlosigkeit als Vorwand benutzt wird, um sich nicht mit den Vorschlägen der politischen Konkurrenz auseinandersetzen zu müssen, dann machen Politiker, die, wie Frau Merkel, ihre Vorschläge als alternativlos darstellen keinen souveränen Eindruck. Wenn die eigenen Vorschläge so überzeugend sind, stellt sich die Frage, warum man auf diese Weise einer Diskussion über sie aus dem Weg geht? Weil diese Legitimationsstrategie versucht, die Notwendigkeit der eigenen Vorschläge durch das Ignorieren der anderen zu legitimieren und umzusetzen, hat sie bereits etwas Diktatorisches.
Absolute bzw. grenzenlose Freiheit ist daher nur ein naives Verständnis von Freiheit, weil es verkennt, wovon sich Freiheit unterscheidet und dass Freiheit ohne ihr Gegenteil nicht bestimmbar ist. Trotzdem wird in öffentlichen Diskussionen immer wieder mit diesem naiven Verständnis von Freiheit argumentiert, was die Verbreitung eines leeren Freiheitsbegriffs fördert. Diejenigen, die diese absolute Vorstellung von Freiheit für plausibel halten, werden durch diese Vorstellung entscheidungs- und handlungsunfähig. Daraus resultiert, nebenbei bemerkt, die häufig beklagte Überforderungserfahrung (vgl. Ehrenberg 2008 [1998]).
Ebenso wenig kann man von Souveränität bzw. Autonomie sprechen, wenn nur eine Option zur Verfügung steht. Dann kann man sich zwar immer noch zwischen der Ausführung oder der Unterlassung entscheiden, trotzdem ist eine Alternative wie keine Alternative. Wenn die scheinbare Alternativlosigkeit als Vorwand benutzt wird, um sich nicht mit den Vorschlägen der politischen Konkurrenz auseinandersetzen zu müssen, dann machen Politiker, die, wie Frau Merkel, ihre Vorschläge als alternativlos darstellen keinen souveränen Eindruck. Wenn die eigenen Vorschläge so überzeugend sind, stellt sich die Frage, warum man auf diese Weise einer Diskussion über sie aus dem Weg geht? Weil diese Legitimationsstrategie versucht, die Notwendigkeit der eigenen Vorschläge durch das Ignorieren der anderen zu legitimieren und umzusetzen, hat sie bereits etwas Diktatorisches.
Ausnahmezustand und Normalzustand
Sofern staatsrechtlich argumentiert wird,
handelt es sich bei Souveränität um staatliche
Autonomie. Die Alternativen zwischen denen sich der Entscheider, wer immer das
im Einzelfall sein mag, zu entscheiden hat, sind der Ausnahmezustand und ein wie immer gearteter Normalzustand. Um die Frage zu beantworten, was der
Normalzustand ist, soll zunächst geklärt werden, was Schmitt als
Ausnahmezustand beschreibt. Wichtig ist dafür die Feststellung, nicht jede Notsituation ist ein
Ausnahmezustand (vgl. Schmitt 2015 [1922], S. 13). Bestimmte Notfälle
treten regelmäßig auf und mit der Zeit haben sich entsprechende Verfahren
institutionalisiert, mit denen der Notfall behoben wird. Das gilt nicht nur für
Notfälle, sondern für jedes wiederkehrende Problem. Insofern stellt sich die
Frage, ob es in solchen Fällen überhaupt berechtigt ist, von Notfällen
zu sprechen. Not meint in diesen Fällen, zum Beispiel einem medizinischen
Notfall, lediglich nötig im Sinne von dringend.
Auch staatsrechtlich dringende Probleme sind in diesem Sinne noch keine
Notfälle, wenn es bereits rechtliche Regelungen für diese Fälle gibt.
Wie gut oder schlecht die Regelungen geeignet
sind das Problem zu lösen ist eine andere Frage. Wichtig ist zunächst nur die
Feststellung, dass bei wiederkehrenden Problemen eine Normalisierung der Not stattgefunden hat. Für die Betroffenen sind
es immer noch Notfälle, für die Helfer oder Entscheider dagegen nicht. Ausnahmen bilden dann lediglich solche
Fälle, für die es keine Regelungen oder Verfahren zur Lösung gibt. In der Politik wäre dies nur der Fall, wenn die staatliche Ordnung
bedroht ist und sie nur aufrechterhalten werden kann, wenn zu Mitteln
zurückgegriffen werden muss, die durch die geltende Verfassung nicht mehr
legitimiert sind. Offen bleibt allerdings, wie eine Bedrohung aussieht, die
derartige Maßnahmen rechtfertigen. Das bedeutet, wenn über den Ausnahmezustand entschieden wird, dann wird darüber
entschieden die Verfassung außer Kraft zu setzen. Dazu noch einmal Schmitt:
»Der Ausnahmefall, der in der geltenden Rechtsordnung nicht umschriebene Fall, kann höchstens als Fall äußerster Not, Gefährdung der Existenz des Staates oder dergleichen bezeichnet, nicht aber tatbestandsmäßig umschrieben werden.«
(Schmitt 2015 [1922], S. 13/14)
Geht man davon aus, dass die Verfassung den
politischen Handlungsmöglichkeiten Beschränkungen auferlegt, dann werden diese
Beschränkungen mit der Entscheidung, den Ausnahmezustand zu verhängen, aufgehoben. Mit dieser Entscheidung wird der politischen Willkür Tür und Tor geöffnet. Vor allem linke
Beobachter wittern bei der Rede vom Ausnahmezustand bereits die Morgenröte des Politischen
in der postdemokratischen Gesellschaft. Das mag sein. Verbindet man den
Ausnahmezustand mit politischer Willkür ist es bei genauerer Betrachtung vor
allem die Morgenröte für Autokraten. Denn die müssen sich im Ausnahmezustand nicht mehr an irgendeine lästige Verfassung halten, die ihnen vorher möglicherweise die Hände gebunden hatte. Der Ausnahmezustand wäre dann nur ein
weiterer Schritt in Richtung Postdemokratie und kein Schritt zur Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse.
Beschreibt man den Ausnahmezustand als politische Willkürherrschaft, dann
bedeutet dies im Umkehrschluss, dass im politischen Normalzustand keine politische Willkür herrscht, weil die staatlichen Entscheidungen an die
Verfassung gebunden sind. Im Anschluss daran stellt sich die Frage, welcher
Fall es heute überhaupt rechtfertigen würde, den Ausnahmezustand zu verhängen? Bei dem Begehren in ein bestimmtes Staatsgebiet einreisen zu dürfen, um sich
dort dauerhaft nieder zu lassen oder um politischen Schutz zu suchen, ist kein
solcher Problemfall. Dabei handelt es sich um ein wiederkehrendes Problem, für das
längst juristisch Verfahren bereit stehen.
Politische Versäumnisse
Im Hinblick auf die extrem laxe
Abschiebepraxis in Deutschland muss man allerdings feststellen, dass Gesetze allein nicht
helfen. Sie müssen auch durchgesetzt werden. Dies kann im Extremfall bis hin
zur Anwendung von Gewalt gehen. Ein weit verbreiteter Irrtum ist der Glaube,
dass die Anwendung von Gewalt immer gegen die grundgesetzlich verankerte
Menschenwürde verstößt und somit zu unterlassen sei. Ich nenne diesen Glauben
die Illusion der Unpolitischen. Es entspricht nicht der Rechtslage, dass es dem Staat
vollständig untersagt sei Gewalt anzuwenden. Mithin ergibt sich erst aus dem
Drohpotential Macht im politischen Sinne (vgl. Luhmann 2003 [1975]). Mit dem Recht wird die legitime und illegitime Gewaltanwendung geregelt. Dies wird bei der Diskussion
darüber, wie man politisch mit dem Flüchtlingsansturm umgehen soll, häufig
vergessen. Im schlimmsten Fall kann ein Staat durchaus Gewalt einsetzen, um die
illegale Einreise zu unterbinden. Auch wenn Politiker häufig vor den negativen
Folgen der massenmedialen Berichterstattung über solche Maßnahmen
zurückschrecken, heißt das jedoch nicht, dass sie rechtlich nicht gestattet wären. Vielmehr
zeigt sich in dem Zögern die Schwäche vieler Politiker, weil sich aus der
massenmedialen Berichterstattung plötzlich Einflussmöglichkeiten auf die
Politik ergeben.
Darüber hinaus haben sich die deutschen
Politiker über Jahrzehnte Illusionen darüber gemacht, wie attraktiv bzw.
unattraktiv Deutschland für Einwanderer ist. Dies hat dazu geführt, dass keine
Notwendigkeit gesehen wurde, das Asyl- und das Einwanderungsrecht zu
überarbeiten und den über die Jahre aufgelaufenen Problemen anzupassen. Es fehlten Reglungen zu sicheren Herkunftsstaaten und zum Umgang mit fehlenden Pässen. Darüber hinaus war der Zeitraum von der Antragstellung bis zur Entscheidung über den Antrag schon vor dem Flüchtlingsansturm viel zu lang. Diese Untätigkeit rächt sich nun aufgrund der bloßen Anzahl der Flüchtlinge. Als der Ansturm schließlich einsetze, stieg die Anzahl
der Anträge in noch nie dagewesene Ausmaße und es ist wenig überraschend, dass die Mitarbeiter des Bundesministeriums für Migration und Flüchtlinge mit der Bearbeitung der Anträge nicht hinterherkommen. Die bisherigen Verfahren waren für diese Größenordnung einfach nicht ausgelegt. In
Kombination mit der fehlenden Bereitschaft bestehendes Recht gegebenenfalls
auch mit drastischen Mitteln, wie einem Zaun, durchzusetzen, ist eine
historisch beispiellose Situation eingetreten. Diese Situation ist aber noch
kein Problem, bei dem es berechtigt wäre, von einem Ausnahmezustand zu
sprechen, denn es gab Verfahren zur Problembewältigung. Diese Situation ist
lediglich das Ergebnis von politischen Fehleinschätzungen und Unterlassungen in
der Vergangenheit.
Mithin fiel die Entscheidung, die Flüchtlinge aus
Ungarn über Österreich nach Deutschland zu holen, unter Missachtung aller
bestehenden Gesetze – nationale und europäische. Mit dieser Entscheidung wurde
zugleich unausgesprochen die Entscheidung über den Ausnahmezustand
gefällt. Wie ist es sonst zu verstehen, das geltende Gesetze nicht angewendet werden? Paradoxerweise musste dafür ausgerechnet die Verfassung bzw. das
Grundgesetz mit dem Verweis auf die Menschenwürde herhalten, um diese
Entscheidung zu begründen. Kurioserweise wurde die Verfassung aber nicht außer Kraft gesetzt,
damit die regierenden Politiker zu verfassungswidrigen Gewaltmaßnahmen greifen können. Vielmehr wurde die Verfassung außer Kraft gesetzt, um
Gewaltmaßnahmen, die durch die Verfassung durchaus legitimiert waren, nicht
anwenden zu müssen – und dies aus Furcht vor der negativen Publicity.
Seitdem wird das Grundgesetz zur Bewältigung
der Flüchtlingskrise ignoriert nur um irgendwelche vermeintlichen Werte des
Grundgesetzes aufrecht zu erhalten. Obwohl offiziell noch so getan wird, als
würde die Politik auf der Grundlage der Verfassung handeln, tut sie es
faktisch nicht mehr. Praktisch wird das unterlassen, was dem Gesetz nach
geboten wäre, und das getan, was dem Gesetz nach gar nicht möglich sein dürfte. Souverän ist das nicht. Es zeugt stattdessen von der Konzeptlosigkeit der Kanzlerin. Gesetze sind dazu da die Erwartbarkeit politischer Entscheidungen sicherzustellen und Willkür auszuschließen. Die deutsche Politik wurde das Opfer ihrer eigenen Entscheidungsunfähigkeit
und alles, was jetzt getan wird, um diese Unfähigkeit zu korrigieren, wird im In- und Ausland mit großem Argwohn betrachtet werden. Denn der Vertrauensverlust in die deutsche Politik, der durch das derzeitige Hin und Her entstanden ist, wird über Jahre nicht wieder gut zu machen sein.
Unsouverän ist, wer die Ausnahmen
zulässt
Zu Schmitts Theorie des Ausnahmezustands muss
jedoch kritisch angemerkt werden, dass sie einen gravierenden Schwachpunkt hat,
wodurch sie der heutigen Situation nur sehr eingeschränkt gerecht wird. Ich
habe bereits weiter oben von der Normalisierung ehemaliger Ausnahmezustände
gesprochen, im Zuge dessen Bewältigungsverfahren institutionalisiert werden. Man könnte
auch einfach von einem Lernprozess
sprechen, in dem dieselben Fehler nicht zweimal wiederholt werden. Schmitt geht auf diesen Lernprozess nicht weiter ein. Dieser
Normalisierungsprozess sollte eigentlich auch für die Weiterentwicklung der
bestehenden Gesetze zu beobachten sein. Gesetze sind wie Mauern, nur mit Lücken
darin. Den rechtlichen Lernprozess kann man als Prozess beschreiben, diese
Lücken zu schließen. Dies ist schon deswegen notwendig, weil es immer auch
Bemühungen geben wird, diese Lücken auszunutzen. Die Möglichkeit den
Ausnahmezustand zu verhängen ist eine solche Lücke. Die Möglichkeit über die Aufhebung der Verfassungsgeltung zu entscheiden, sollte daher in keiner Verfassung vorgesehen sein, denn damit würde ein Schlupfloch für ihre eigene Abschaffung angeboten. Die Entscheidung für den Ausnahmezustand wäre unter dieser Voraussetzung selbst ein Akt politischer Willkür und daher auch nicht durch die Verfassung gedeckt.
Problematisch wird es, wenn Gesetzeslücken, unabhängig davon ob es sich um die Verfassung oder andere Gesetze handelt, vom
Gesetzgeber nicht geschlossen werden, mit der Begründung, dass man gegen das entstandene Problem sowieso nichts tun könne. Genau dadurch nehmen die Probleme schließlich ein
Ausmaß an, das mit den Mitteln des Gesetzes nicht mehr zu lösen ist. Das
bedeutet, politische Entscheidungen sollten heute den Zweck haben, dass es
nicht mehr notwendig ist den Ausnahmezustand zu verhängen. Gleichwohl werden
Ausnahmezustände eintreten, wenn solche Entscheidungen nicht getroffen werden.
Sicherlich können auch bei der Prävention gegen den Ausnahmezustand noch
Fehlentscheidungen getroffen werden. Die schlechteste Option für Politiker ist
jedoch untätig zu bleiben. Einerseits kann
der Ausnahmezustand durch eine politische Entscheidung verhängt werden. Anderseits
ist es genauso möglich, dass durch die Unterlassung
von Entscheidungen, wie das geltende Recht durchzusetzen oder
Gesetzeslücken zu schließen, ebenso der
Ausnahmezustand ohne explizite Entscheidung eintreten kann. Ohne politische Entscheidungen kann ihre Verfassungsmäßigkeit nicht beurteilt werden.
Leider ist Aussitzen seit Helmut Kohls
Kanzlerschaft zur erfolgreichsten Strategie deutscher Politik geworden. Wenn ein Ausnahmezustand auch durch Untätigkeit eintreten kann, dann sind entscheidungsunfähige Politiker, die sich erst dann zu einer Entscheidung
durchringen können, wenn der äußere Druck so groß geworden ist, dass ihr
massenmedial gepflegtes Image bedroht ist, die weit größere Gefahr für den
Rechtsstaat. Angela Merkel hat diese Strategie zur Perfektion getrieben und
konnte viele Journalisten und Bürger davon überzeugen, dass diese Strategie der Politikvermeidung Politik sei.
Dabei hat sie auf diese Weise nur von ihrer Entscheidungsschwäche abgelenkt,
denn sie agierte nicht proaktiv und souverän, sondern reagierte nur auf äußeren
Anlässe und stellte ihre Handlungsstrategie als alternativlos dar. Die deutsche
Politik ist schon seit Jahren seltsam fremdbestimmt, denn es waren zumeist
Ereignisse weit außerhalb der Einflussmöglichkeiten deutscher Politiker, die
den Anstoß für gravierende innenpolitische Veränderungen gaben. Man denke nur
an die Katastrophe von Fukushima.
Der Flüchtlingsansturm ist ein vergleichbarer
Fall. Er war kein Ausnahmezustand. Er war nicht mal ein innenpolitisches
Problem. Die Entscheidung der Kanzlerin, die Flüchtlinge von Ungarn nach
Deutschland zu holen, hat den Flüchtlingsansturm erst zu einem innenpolitischen
Problem gemacht. Damit hat Frau Merkel einen rechtlichen Zustand herbeigeführt,
bei dem nicht klar ist, ob die Verfassung noch gilt oder nicht. Diese Frage
kann man aktuell mit Ja und Nein beantworten. In diesem Zustand können sich
Politiker auf die bestehenden Gesetze berufen oder auch nicht – je nachdem ob
es politisch opportun im Sinne kurzfristiger massenmedialer Imagegewinne ist. Das heißt, bereits jetzt herrscht in Deutschland
politische Willkür, was man im Sinne Schmitts als Ausnahmezustand
bezeichnen kann. Horst Seehofers Drohung mit einer Verfassungsklage gewinnt aus
dieser rechtlichen Unklarheit sein Drohpotential. Sollte die Entscheidung des
Verfassungsgerichts zugunsten von Seehofer ausfallen, wäre die Politik der
Kanzlerin desavouiert. Das wäre der PR-technische als auch der politische Supergau – nicht nur für Merkel. Seehofers Zögern lässt sich daher wohl nur mit parteipolitischer Disziplin
erklären.
Literatur
Ehrenberg, Alain (2008 [1998]): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Luhmann, Niklas (2003 [1975]): Macht. 3. Auflage Lucius & Lucius Stuttgart
Ehrenberg, Alain (2008 [1998]): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Luhmann, Niklas (2003 [1975]): Macht. 3. Auflage Lucius & Lucius Stuttgart
Schmitt, Carl (2015 [1922]): Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von
der Souveränität. 10. Auflage Duncker & Humblot Berlin
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