Mittwoch, 29. Oktober 2014

Impressionen und Gedanken zum Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2014


Vom 06.10. bis 10.10.2014 fand in Trier der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie statt. Ich hatte das Vergnügen bei der vom Soziologiemagazin organisierten Ad-Hoc-Gruppe „Krise der Kommunikation: Wo bleibt der soziologische Diskurs?“ einen Vortrag zu halten. Im Folgenden möchte ich einige meiner Eindrücke schildern, die ich während der Zeit sammeln konnte. Zwei Bemerkungen dazu vorweg. Zum einen, ich habe zwar Soziologie studiert, verdiene mein Geld aber heute außerhalb der Wissenschaft. Nichts desto trotz habe ich mir einen soziologischen Blick bewahrt und versuche diesen mit meinen beiden Blogs zu kultivieren. Trotzdem hatte ich die Befürchtung, dass ich aufgrund meiner weiteren beruflichen Sozialisation schwer für die Habitus- oder Verhaltensformen der professionellen Soziologen anschlussfähig sein werde. So hatte ich, um dem Abenteuer DGS-Kongress ein persönliches Motto zu geben, bereits auf der siebenstündigen Anfahrt nach Trier angefangen Robert A. Heinleins Roman „Ein Mann in einer fremden Welt“ (Engl. Originaltitel „Stranger in a strange land“) zu lesen. Diese Befürchtung hat sich zum Teil erfüllt, zum Teil aber auch nicht. Dazu im Folgenden mehr. Zum andere bot der DGS-Kongress eine große Anzahl an Veranstaltungen und man musste sich sehr gut überlegen, welche man besuchen möchte. Leider wurde man dabei häufig vor die Wahl gestellt zwischen verschiedenen Veranstaltungen zu wählen, die man alle gerne besucht hätte. So ist einer der wenigen Wermutstropfen des Kongresses, die kaum zu vermeidende Enttäuschung einige vielversprechende Veranstaltungen verpasst zu haben, die man auch gerne besucht hätte. Ich vermute, so wird es den meisten Teilnehmern ergangen sein. An diesem Problem konnte jeder das Komplexitätsproblem, was einen ja immer vor eine Entscheidung stellt, selbst erfahren. Zugleich kann man sich als Einzelner so gut wie kein allgemeines Urteil über den Kongress erlauben, weil man nur einen Bruchteil davon miterleben konnte. Deswegen werde ich aus meiner persönlichen Sicht einige Eindrücke und Gedanken schildern, die mich während des Kongresses bewegt haben. Hier spielen zum einen meine eigenen thematischen Interessen und die sich daran anschließende Auswahl der Veranstaltungen eine Rolle als auch einige Phänomene, die vielleicht nicht nur mir während der Zeit aufgefallen sind. Den soziologischen Blick konnte ich während des Kongresses natürlich nicht abstellen. 

Vorleseritis

Ein solches Phänomen, das nicht nur mir aufgefallen ist, war, dass die Referenten häufig nicht vorgetragen haben, sondern Texte vorgelesen haben. Stefan Selke hatte in einem Beitrag auf seinem Blog dieses Problem bereits für den World Congress of Sociology der International Sociological Association (ISA) im japanischen Yokohama in diesem Jahr beschrieben. Sein Text hatte mich dazu angespornt meinen Vortrag frei zu halten. Vortragen wurde für mich zu einer Frage der Ehre. Da ich allerdings so gut wie nie die Gelegenheit habe vor einem größeren Publikum zu sprechen und dadurch mein Lampenfieber noch immer ein großer Risikofaktor ist, war der Vortrag für mich auch eine sehr große Herausforderung. Ich hätte allerdings nicht gedacht, wie groß der Anteil der Vortragenden war, die abgelesen haben. Das hat mich, vorsichtig ausgedrückt, etwas schockiert. Denn das größte Problem bei vorgelesenen Texten liegt darin, dass man dem Vortrag kaum folgen kann. Ich habe einige krasse Auftritte miterlebt, die vor allem ein Beispiel dafür ablieferten, wie man es nicht machen sollte. Aufgrund der Selbstverständlichkeit und hohen Verbreitung, hatte ich den Eindruck, dass sich das Vorlesen schon zu einer Konvention entwickelt hat. Ich empfand es leider als eine sehr ärgerliche Unsitte, die ich irgendwann nur noch als „Vorleseritis“ bezeichnet habe.

Neben der Möglichkeit auf dem Kongress zu netzwerken, um karrieretechnisch die richtigen Weichen zu stellen, sollte so ein Kongress auch ein Forum zur Bekanntmachung und Verbreitung der eigenen Arbeit sein, was vor allem über die Vorträge erreicht wird. Doch gerade diese Funktion wird mit vorgelesenen Texten immer schlechter erfüllt, was ich schon recht problematisch finde. Vielleicht habe ich es nur so problematisch empfunden, weil für mich der Kongress karrieretechnisch keinerlei Bedeutung hat, denn ich strebe definitiv keinen Wiedereinstieg in die Wissenschaft an. Aber gerade wer spannende Vorträge von eloquenten Rednern erwartet hatte, wurde zumeist herb enttäuscht. Selbst Randall Collins, von dem ich eigentlich viel erwartet hatte, hielt eine Vorlesung im wörtlichen Sinne. Ich konnte ihm nur schwer folgen und habe nach circa fünf Minuten wieder die Flucht ergriffen. Das kann allerdings auch daran gelegen haben, dass ich gerade aus der Ad-Hoc-Gruppe „Öffentliche Soziologie: die Soziologie und ihre Publika“ kam. Da gab es wirklich noch Vorträge zu hören und auch anregende Diskussionen. Neben Stefan Selke, der sowieso ein charismatischer Redner ist, lieferte Fran Osrecki mit seinem Vortrag die beste Performance ab, die ich auf dem Kongress miterleben durfte. Bei ihm zeigte sich die große Begeisterung und Freude für sein Thema, dass ich ansonsten häufig vermisst habe. Der Input aus dieser Ad-Hoc-Gruppe war ziemlich viel, so dass ich danach einfach noch keine Nerven hatte, mich auf Collins einzulassen. So zog ich es dann vor, mich lieber den Organisatoren und Referenten der Ad-Hoc-Gruppe anzuschließen, um zu überlegen, wie man Öffentliche Wissenschaft weiter voranbringen kann. Dabei wurde auch mal kurz diskutiert, was der Vorteil des Vorlesens sein könnte. Zum Teil kann ich die Argumente nachvollziehen. Überzeugt habe sie mich jedoch nicht. Ich teile in dieser Frage die Position von Stefan Selke, dass ein Vortrag frei gehalten werden sollte.

Ein freier Vortrag hat nicht nur Vorteile für die Zuhörer, sondern auch für die Vortragenden. Bei der Vorbereitung meines eigenen Vortrags habe ich gemerkt, dass man sich ganz anders mit seinen Ideen und Gedanken auseinander setzen muss als beim Schreiben eines Textes. In einem Text kann man mit ausführlichen und komplizierten Gedankengängen beeindrucken. Ich kann verstehen, wenn man das auch bei einem Vortrag möchte. Meiner Meinung nach funktioniert das leider nicht, weil es den Vortrag völlig überfrachtet. Gerade durch die Zeitvorgaben wird man gezwungen seine Gedanken auf das Wesentliche zu reduzieren. Das geht nur, wenn man sich selbst mit der Frage konfrontiert, was will ich eigentlich mit meinem Vortrag mitteilen. Mehr als eine Gedankenlinie kann man in einem Vortrag eh kaum darlegen – es kommt natürlich auch darauf an, wie viel Zeit man zur Verfügung hat. Dadurch muss im Grunde jeder einzelne Satz darauf geprüft werden, ob er für die Darstellung relevant ist oder nicht und ob er auch von Personen nachvollzogen werden kann, die nicht im selben Theoriekosmos rumschwirren, wie man selbst. Dafür muss man gelegentlich auch etwas zuspitzen. Mit Vorträgen, die nicht länger als 20 Minuten gehen sollen, kann man nicht die großen Gemälde malen, sondern allenfalls schematische Skizzen. Für einen Vortrag reicht das aber zunächst erstmal aus, denn mehr wird bei den Zuhörern sowieso nicht hängen bleiben. Ich hatte z. B. eine Zeitvorgabe von maximal 15 Minuten. Mein ursprüngliches Vortragsmanuskript umfasste 7 Seiten. Schnell habe ich gemerkt, dass dies die Zeitvorgabe um einiges überschreitet. Am Ende hatte ich 5 Versionen des Vortrags und die endgültige ist nur noch knapp etwas mehr als 4 Seiten lang. Dafür musste ich radikal aussortieren, weil ich mir viel zu viel vorgenommen hatte. Obwohl ich über einen Monat den Vortrag geübt hatte, stand die endgültige Version erst knapp eine Woche vorher. Und erst mit ihr lag ich in der Zeitvorgabe.

Ich kann daher nur an die Organisatoren des Kongresses und der einzelnen Veranstaltungen appellieren stärker auf die Zeitvorgaben zu bestehen und notfalls auch mal abzubrechen, um ein Zeichen gegen diese Unsitte zu setzen. Eine Vermutung, die sich bei mir während des Kongresses bildete, ist, dass die Krise der Soziologie möglicherweise auch mit dieser offenbar üblichen Form der Wissensverbreitung zusammenhängt. Anscheinend besteht bei vielen Vortragenden keinerlei Interesse mehr von den Zuhörern verstanden zu werden. Dies kann auch nicht gelingen, wenn man die Referenten nicht durch das Bestehen auf der Zeitvorgabe dazu zwingt, sich intensiv mit den eigenen Gedanken auseinander setzen. Ohne das Einhalten der Zeitvorgaben und ohne das Vortragen besteht die starke Tendenz zur Präsentation von zerfaserten Gedankengängen anstatt von pointierten Aussagen. So wird den Vortragenden zwar die Möglichkeit gegeben argumentative Schwächen zu verbergen. Nur was bringt das, wenn einem am Ende keiner mehr zuhört? Das ist es nämlich, was durch das Vorlesen erreicht wird.

Gelehrter oder Forscher?

Ein weiter Aspekt dieses Problems scheint mir ein unter deutschen Soziologen immer noch weit verbreiteter Habitus zu sein. Mein Eindruck ist, dass sich in Deutschland noch viel zu sehr am Typus des Gelehrten orientiert wird, der sein enzyklopädischen Wissen jedem runter rattern kann, der es hören will. Der Unterschied zwischen Gelehrten und Forschern treibt mich seit der Lektüre von Jürgen Kaubes Max-Weber-Biographie um. Sie bot den Anlass mir erstmals über diesen Unterschied Gedanken zu machen. Denn Kaube beschreibt mit der Biographie einen Prototyp deutscher Gelehrsamkeit. Die folgenden Ausführungen zum Unterschied zwischen Forschergeist und Gelehrsamkeit beziehen sich allerdings nicht direkt auf Weber. Ich versuche nur Idealtypen - das durchaus im Sinne Webers - zu rekonstruieren. Auf den Gelehrten trifft Luhmanns berühmte Formulierung zu, dass man alles, was man weiß, aus den Massenmedien weiß – der Gelehrte speziell aus Büchern. Es ist überwiegend ein Wissen aus zweiter Hand, das er referiert, und häufig fehlt auch der emotionale Bezug zum Gegenstand. Geht man nach der Eloquenz eines Vortrags, hab ich mich während des Kongresses öfters gefragt, warum sich einige Personen überhaupt mit einem bestimmten Thema beschäftigen, denn die fehlende Eloquenz, zeugt von einer geringen emotionalen Verbundenheit zum Thema. Ich finde, man muss die Begeisterung für ein bestimmtes Themenfeld spüren können. Auch dies kann ansonsten leicht zum Verlust der Aufmerksamkeit des Publikums führen. Dafür habe ich auch offensiv in der Ad-Hoc-Gruppe des Soziologiemagazins geworben.

Dazu gehört es auch sich aus der sicheren Distanz des Beobachters mitten ins Feld zu begeben. Hier haben mich schon immer die Ethnologen fasziniert, die, gepackt vom Forscherdrang, ihre Reisen zu unbekannten Kulturen unternommen haben. Mit der Idee, die Gesellschaft als Labor zu betrachten, wird dieser Forschergeist einer Modernisierung unterzogen. Ich selbst habe während des Kongresses festgestellt, dass ich diesen Geist auf eine gewisse Art und Weise auch in meiner Arbeit umsetze. Ich kann nur alle Nachwuchswissenschaftler ermutigen sich mehr von diesem Geist inspirieren zu lassen.

Zur Emanzipation von dem Gelehrtengeist gehört es auch sich von der Ehrfurcht vor den großen Klassikern zu befreien. Ich kann jeden angehenden Soziologen nur empfehlen solche Theorien und Methoden nicht als sakrosankt zu betrachten, sondern eher als Mittel die eigene Beobachtungsgabe zu schärfen und diese Beobachtungen anschlussfähig auszudrücken. Dies kann nicht nur, sondern das auch sollte Freude machen. Wenn man eine oder mehrere Theorien gefunden hat, bei denen man das Gefühl hat sein Erleben am objektivsten – ohne natürlich Objektivität jemals vollständig erreichen zu können – ausdrücken kann, dann sollten die Leser oder Zuhörer diese Freude auch spüren. Denn nur dadurch gewinnt man die Aufmerksamkeit des Publikums und der Funke springt über, damit auch die Leser oder die Zuhörer zum soziologischen Denken angeregt werden. Nur wer die Ausdrucksmöglichkeiten, die die Gesellschaft bietet, souverän zu nutzen weiß, zeigt, dass sie oder er eine gute Soziologin oder ein guter Soziologe ist. Diese Souveränität habe ich häufig vermisst. Vorlesen statt Vortragen ist häufig ein Indikator für diese fehlende Souveränität. Außerdem erkennt man durch diese Praxis viel leichter was sich ein Autor bei bestimmten Theorieteilen gedacht hat. In dem man eine bestimmte Theoriesprache benutzt, ahmt man nicht nur den Autor nach, sondern irgendwann ist man auch in der Lage über ihn hinauszudenken.

Diese Ansprüche lege ich auch an meine eigenen Texte und Vorträge an. Wie erfolgreich er umgesetzt wird, müssen andere beurteilen. Ich bin während des Kongresses zu dem Schluss gekommen, dass der moderne und öffentliche Forscher engagiert, experimentierfreudig und abenteuerlustig sein sollte, um eine soziale Resonanz zu erzeugen. Meinem Eindruck nach gibt es hier noch einigen Nachholbedarf, aber auch einiges Potential unter Nachwuchssoziologen. Ich hoffe, dass der deutsche Universitätsbetrieb in den kommenden Jahren nicht noch den letzten Rest des Forschergeistes abtötet. Der Gelehrte ist ein Relikt der Vergangenheit. Er ist ein Wissensverwalter, aber niemand der durch sein Handeln zur Vermehrung des Wissens beiträgt. Forschen heißt seine Annahmen über die Wirklichkeit durch die Wirklichkeit bestätigen oder negieren zu lassen. Das Negieren hat dabei eindeutig die Überhand. Wer Wissenschaft betreibt, muss also zu allererst bereit sein sich und anderen die eigenen Irrtümer einzugestehen. Der Forscher lässt sich also von der Wirklichkeit belehren. Der Gelehrte dagegen belehrt nur andere – und diese nicht etwa über die Wirklichkeit sondern nur über Annahmen über die Wirklichkeit, die zumeist nicht mal seine eigenen sind. Außerdem handelt es sich nur um eine One-Way-Kommunikation. Widerspruch ist häufig nicht erwünscht. Das zeugt von einem gestörten Wirklichkeitsbezug und ist eine der denkbar schlechtesten charakterlichen Voraussetzungen um Wissenschaft zu betreiben. Dafür ist die Gefahr ziemlich groß in quasi-religiösen Dogmatismus zu verfallen. Eines sollte klar sein. Wissenschaft gibt keine Antworten auf die letzten Fragen. Das Wissen, das die Wissenschaft liefert, kann aber dazu beitragen für sich selbst eine Antwort auf diese Fragen zu finden. Das gilt aber auch für Religion, Liebe, Kunst, ja sogar Wirtschaft oder Politik und ist somit nichts, was ein Alleinstellungsmerkmal der Wissenschaft wäre. Wer endgültige und unumstößliche Antworten auf die letzten Fragen erwartet, ist trotzdem noch bei einer der vielen Religionen am ehesten an der richtigen Adresse.

Systemtheorie

Es war natürlich klar, dass ich die wenigen Systemtheorie-Veranstaltungen, die es gab, besuchen musste. Und so stand am Dienstag die von Thomas Kron und Walter Reese-Schäfer organisierte Veranstaltung der Sektion Soziologische Theorie „30 Jahre »Soziale Systeme« - Ende und Anfang einer Theoriekrise?“ auf meinem Programm. Dabei wurde mir jedoch sehr schnell klar, was mich von der Hardcore-Systemtheorie-Szene trennt. Luhmann hatte ja eine sehr kühle und distanziert, ironische Haltung kultiviert. Damit kann ich nur bedingt etwas anfangen. Gerade die kühle Distanz kommt dem Gelehrtenhabitus sehr entgegen und viele Systemtheoretiker gefallen sich immer noch in der Pose des Gelehrten, lassen aber die nötige Selbstironie vermissen. Das Eingestehen der Grenzen des eigenen Wissens hat übrigens noch nichts mit Selbstironie zu tun, sondern diese Bescheidenheit ist eine notwendige charakterliche Voraussetzung um überhaupt gute Wissenschaft betreiben zu können. Ein bisschen mehr Forschergeist würde auch einigen Systemtheoretikern sicher ganz gut tun. Das bezieht sich übrigens nicht auf die Vortragenden, denn bis auf eine Ausnahme wurde mehr oder weniger versucht die Luhmannsche Systemtheorie tot zu reden.

So beließ es Dirk Baecker in seinem Vortrag dabei zu proklamieren, dass es keine sozialen Systeme gibt, um daraufhin eine Literarisierung der Systemtheorie zu fordern. Diese Forderung hat vermutlich bei den meisten Zuhörern ganze Kaskaden an Fragen aufgeworfen. Das Problem, für das seine Forderung die Lösung sein soll, wurde leider nicht eingehender dargestellt. Stattdessen wurden nur irgendwelche Thesen präsentiert, ohne dass der Entstehungskontext erläutert wurde [1]. Dadurch bekam der Vortrag etwas den Anschein von Verkündung. Als Beispiel für eine Literarisierung der Systemtheorie verwies Baecker auf Rainald Goetz‘ „Klage“. Die Forderung nach einer Literarisierung ist in einem wissenschaftlichen Rahmen für sich schon sehr erläuterungsbedürftig. Kennt man Goetz‘ Buch erscheint die Erläuterungsbedürftigkeit noch dringlicher. Denn es handelt sich dabei um eine Sammlung ziemlich wirrer, um nicht zu sagen psychotischer, Tagebucheinträge, die nicht mal im Ansatz einen soziologischen Blick erkennen lassen. Es stellt sich daher nicht nur die Frage, was hat „Klage“ mit Luhmann zu tun, wenn man davon absieht, dass sein Name darin erwähnt wird? Darüber hinaus fragt sich auch, was hat das mit Systemtheorie oder Soziologie zu tun? Wissenschaftlich oder soziologisch ist das Buch völlig irrelevant, weil „Klage“ in typisch postmoderner Manier in kaum nachvollziehbarer Subjektivität versinkt. Alle diese Bedenken lassen sich in einer einzigen Frage zu Baeckers Vortrag zusammenfassen: War das wirklich ernstgemeint?

Will Martens hatte mich mit einer recht unerwarteten Kritik an Luhmanns Systemtheorie überrascht. In seinem Vortrag „Die Konstitution soziale Systeme durch Handlungen“ argumentierte er, dass Luhmann mit der Unterscheidung von System und Umwelt bloß die Unterscheidung von Teil und Ganzem reformuliert hätte. Das stimmt zwar, wäre aber eine sehr verkürzte Lesart, die vor allem die kommunikationstheoretischen Prämissen ignoriert. So wurde mir nicht klar, worin er den Vorteil des Handlungsbegriffs gegenüber dem Kommunikationsbegriff sieht. In der anschließenden Diskussion fragte ich ihn, warum er, wenn er weiterhin für den Handlungsbegriff plädiert, in seinem Vortrag nicht auf den Unterschied von Handlungsbegriff und Kommunikationsbegriff eingegangen ist. Dieser Unterschied hätte das eigentliche Thema des Vortrags sein müssen. Immerhin begreift Luhmann eine Handlung als ein Ereignis, dass eine Synthese aus drei Selektionen ist, nämlich Information, Mitteilung und Verstehen. Das entsprechende Kapitel in »Soziale Systeme« heißt ja auch entsprechend „Kommunikation und Handlung“. Darauf entgegnete Martens, dass er dies ganz kurz machen können – im Sinne, dass dies keinen Vortrag wert wäre. Die Unterscheidung von Mitteilung, Information und Verstehen sei nach seiner Ansicht zum einen funktionalistisch und zum anderen – jetzt kommt’s – normativ. Wie man den Funktionalismus als Einwand gegen Luhmann verwenden will, verstehe ich nicht. Immerhin handelt es sich bei seiner Systemtheorie ja um eine funktionalistische Theorie. Das wäre für mich eher ein Argument für als gegen Systemtheorie. Völlig neu und überraschend war für mich die Kritik, die Systemtheorie sei normativ. Wobei Martens es nicht im Sinne einer moralischen Normativität meinte, sondern im Sinne, dass sie mit der Unterscheidung von Mitteilung, Information und Verstehen bestimmte, recht hohe Erwartungen an Kommunikation heranträgt, die empirisch kaum erfüllt werden. Da hat er natürlich in gewisser Weise Recht. Ich würde in diesem Zusammenhang aber nicht von Normativität sprechen, denn mit jeder Theorie werden bestimmte Erwartungen an Handlungen oder an Kommunikation herangetragen, die ja vermutlich in den seltensten Fällen vollständig bestätigt werden. Außerdem kann man sehr häufig, speziell in organisierten Sozialsystemen beobachten, dass das Auslassen einer sachlichen, zeitlichen oder sozialen Information Irritationen auslösen kann. Kommunikationsprobleme, die durch zu unpräzise Artikulation ausgelöst werden, kenne ich auch aus meiner eigenen beruflichen Praxis zur Genüge. Darüber hinaus ist diese Verwechslung von Normen und Erwartungen selbst ein schönes Beispiel für eine unpräzise Mitteilung. Deswegen würde ich entgegen halten, dass man sich an dem orientieren kann, was sich bewährt hat und funktioniert. Denn nur dann kann man auch verstehen, wenn es zu Problemen kommt. Auch wenn sich Luhmann hier möglicherweise an den hochgezüchteten Erwartungshaltungen von Organisationen orientiert hat, spricht das noch lange nicht dagegen. Vielmehr zeigt es doch nur wie anspruchsvoll und unwahrscheinlich erfolgreiche Kommunikation ist. Und selbst in Organisationen läuft es ja meistens nicht reibungslos. Es gibt also gute Gründe diese kontrafaktischen Erwartungen aufrecht zu erhalten. Und das macht unter anderem die Kontingenz bzw. Andersartigkeit – nicht Überlegenheit! – des soziologischen Blicks aus. Ich hatte am Donnerstag kurz die Gelegenheit Martens persönlich zu erläutern, dass ich seine Einwände gar nicht als Einwände betrachten würde, sondern als Argumente für Luhmanns Systemtheorie, wenn man mal genauer darüber nachdenkt, was er mit normativ in diesem Fall eigentlich meint. Jede Theorie legt kontrafaktische Erwartungen an die Empirie an. Die Stärke einer wissenschaftlichen Theorie zeigt sich, wenn diese Erwartungen modifiziert oder aufgegeben werden, weil sich die kontrafaktische Aufrechterhaltung nicht bewährt hat. Ich kann mir allerdings sehr gut vorstellen, dass in den kommenden Jahren trotzdem diese Form einer Normativitätsunterstellung als beliebtes Totschlagargument in der Auseinandersetzung konkurrierender Theorieschulen genutzt wird

Der interessanteste Beitrag der Veranstaltung kam von Wolfgang Ludwig Schneider, der einen Vortrag „Zur Relevanz der Figur des Parasiten für die Theorie sozialer Systeme“ hielt. Er war der einzige, der nicht in das vorausgegangene Luhmann-Bashing der anderen Vorträge mit einstimmte, sondern konstruktive Kritik übte. Er bezog sich dabei auf Michel Serres‘ Buch „Der Parasit“, das auch Luhmann gerne zitierte. Interessant fand ich seinen Vortrag deswegen, weil meine eigenen Gedanken dazu in dieselbe Richtung gehen. Dass für eine stärkere Kombintation von Luhmann und Serres das Kapitel „Widerspruch und Konflikt“ in »Soziale Systeme« interessant ist, hat auch Schneider erkannt. Bei der Kombination von Luhmann und Serres stellt Serres‘ sehr impressionistischer Stil eine große Herausforderung dar. Während sich Schneider noch sehr an Serres Metaphernsprache orientiert, arbeite ich schon seit längerem mit einer Definition des Parasiten als einer unidirektionalen Beziehung. Die findet sich schon auf dem Buchdeckel der Taschenbuchausgabe. Man könnte auch von einer asymmetrischen Beziehung sprechen. Auf Kommunikationssysteme angewendet, würde das bedeuten, dass wechselseitige Beziehungen, wie sie sich zunächst mit jedem Interaktionssystem bilden durch bestimmte Kommunikationstechniken zu einseitigen Beziehungen modifiziert werden. Mit anderen Worten, die Teilnahmemöglichkeiten werden einseitig zugunsten eines Kommunikationspartners reduziert. Ich vermute Bruno Latour zielt mit seiner symmetrischen Anthropologie auf etwas Ähnliches ab. Und er ist ja auch stark von Serres beeinflusst. Der idealtypische Parasit wäre unter dieser Voraussetzung eine Machtbeziehung a la „Du machst das, was ich will, aber ich mache nicht, was du willst“. Jegliche Art von Zwangsmaßnahme würde darunter fallen. Die eigentliche Herausforderung besteht aber in der Analyse von Kommunikationstechniken, die nicht mit Gewalt als Druckmittel arbeiten. Nach der Ad-Hoc-Gruppe „Systemtheoretische Theorie als Kritische Theorie?“, die wir auch beide besuchten, wies ich Schneider noch darauf hin, dass man im Grunde Foucault unter dieser Prämisse lesen müsste. Foucault hat mit seiner Machtanalytik so eine Art Parasitenjagd betrieben. Unter diesem Blickwinkel wäre Schneiders Vortrag dann auch für diese Ad-Hoc-Gruppe höchst relevant gewesen – speziell mit Blick auf den Vortrag von Sven Opitz.

Systemtheorie & Kritik

Damit komme ich zur Ad-Hoc-Gruppe, die ich Mittwochnachmittag besucht habe. Wer meine Texte kennt, weiß dass ich von der Kritischen Theorie nicht allzu viel halte. Auch die Referenten der von Jasmin Siri und Kolja Möller organisierten Ad-Hoc-Gruppe konnten mich nicht von dieser Haltung abbringen. Die entscheidende Erkenntnis hatte ich während des Vortrags von Maren Lehmann. Da sie auch vorgelesen hatte, konnte ich ihrem Vortrag über weite Strecken nicht folgen [2]. An den Stellen an denen ich folgen konnte, kristallisierte sich bei mir die Erkenntnis heraus, dass die Kritische Theorie eigentlich nur über Kritik redet, aber kaum effektiv kritisiert sondern durch ihre Form der Kritik eher noch die bestehenden Verhältnisse stützt, während Luhmann einfach kritisiert hat ohne dass er je großes Aufheben darum gemacht hätte. Dieses Kritische Potential der Systemtheorie ergibt sich für mich aus dem, was Will Martens als normativ bezeichnet hatte aber eigentlich kontrafaktische Erwartungen der Theorie meint, die zumindest vorläufig enttäuschungsresistent aufrechterhalten werden.

Ein weiteres Kritikpotential ergibt sich aus der hohen Anschlussfähigkeit der Luhmannschen Systemtheorie an systemische Therapieformen. Es ist ja kein Zufall, dass gerade in der systemischen Berater-&-Therapeuten-Szene Luhmann sehr stark rezipiert wird. Ich selbst versuche aus diesen theoretischen Anknüpfungspunkten eine Kritik bestimmter Formen interpersoneller Wahrnehmung abzuleiten. Programmatisch dazu war mein erster Text für das Beobachter.LAB. Das Programm selbst bezeichne ich im Anschluss an Gregory Bateson als die Suche nach einer Ökologie des Geistes. Mit der Rede von Ökologie soll die Umweltorientierung des Geistes – Geist = Selbstreferenz – betont werden. Hier sehe ich einige Parallelen zu dem Vorhaben, was Sven Opitz in seinem Vortrag „Selbsttechnik mit System“ vorgestellt hat. Er nimmt allerdings an, dass Foucault für die Kritik bestimmter Formen der interpersonellen Wahrnehmung hilfreich sein könnte. Da habe ich so meine Zweifel. Ich selbst habe meinen Theorieansatz schon vor längerer Zeit wieder für psychologische Ansätze geöffnet und diese integriert. Auch hier gibt es möglicherweise noch einen tiefen Graben zwischen mir und vielen Systemtheoretikern, denn diesen Schritt ist nicht jeder bereit mitzugehen. Ich sehe darin jedoch ein großes Potential das Erleben der Menschen wieder stärker zu berücksichtigen und den anti-humanistischen Bias der Systemtheorie gerade zu rücken. Ob man etwas Vergleichbares erreicht, wenn man stattdessen mit Foucault arbeitet, glaube ich nicht. Dazu war Foucault viel zu psychiatrie- und psychologiefeindlich eingestellt. Das macht sich auch in den entsprechenden Werken dazu bemerkbar. Foucault hat sich nur auf den strategischen Einsatz der Kategorisierung als „verrückt“ für die Ausgrenzung von Personen interessiert. Gleichwohl ich diesen Missbrauch nicht bestreiten würde, übersieht Foucault meiner Meinung nach völlig, dass Menschen sehr wohl an seelischen Problemen leiden können unabhängig davon, ob man diese seelischen Zustände als verrückt bezeichnet oder nicht. Mithin scheint mir Foucault sehr stark dazu beigetragen zu haben, dass seelische Leiden inzwischen als unveränderbare Gefühlszustände betrachtet werden ohne zu registrieren, welche Kommunikationsprobleme der auf die Umwelt projizierte Selbsthass und die Selbstaggression der Betroffenen bereits bereiten. Statt symbolische Gewalt zu minimieren, hat sie unter dem Einfluss französischer Poststrukturalisten eher zugenommen, weil man die symbolische Gewalt psychotischen Erlebens und neurotischen Verhaltens nicht als solche erkennt. Mit anderen Worten, Foucault hat einen egozentrischen statt einen empathischen Blick kultiviert und an den Folgen leidet die zwischenmenschliche Kommunikation und die beteiligten Menschen. Vor dem Hintergrund des durch den Poststrukturalismus und die Postmoderne kultivierten Egozentrismus erscheint das Bestehen auf einer stärkeren Umweltorientierung im Sinne einer stärkeren Berücksichtigung der Kommunikationspartner und ihres Erlebens dringend notwendig.

Das Problem der Vorleseritis machte sich leider auch in dieser Ad-Hoc-Gruppe stark bemerkbar. Obwohl ich oben bereits das Wesentliche dazu geschrieben habe, kam bei einigen Vorträgen noch ein spezieller Aspekt dieses Problems zum Tragen. In einigen Vorträgen wurde versucht über Luhmann-Zitate eine bestimmte Lesart Luhmanns zu plausibilisieren – im Rahmen des Themas sollte auf das kritische Potential bei Luhmann aufmerksam gemacht werden. Das ist sicherlich eine durchaus übliche Textform zur Annährung an einen bestimmten Autor. Aber genau darin liegt auch das Problem. Es handelt sich um eine Textform und Texte werden gelesen. Als Vortrag funktionierte das aus meiner Sicht nicht wirklich. Außerdem handelt es sich bei dieser Herangehensweise für mich tendenziell zu sehr um Luhmann-Exegese. So toll ich Luhmann auch finde, bleibt mir diese Form der Auseinandersetzung mit einem Autor fremd. Das Problem bei dieser Art der Auseinandersetzung ist, dass man sich immer nur unkritisch gleichsam „von unten“ annähert. Darin spiegelt sich für mich noch ein zu großer Respekt vor der Autorität bzw. dem Genius des Autors wieder. Auf diese Weise wird es nur extrem schwer gelingen das gleiche Niveau zu erreichen oder sogar darüber hinauszuwachsen. Dadurch wird in gewisser Weise die eigene Weiterentwicklung blockiert. Das sei nur nebenbei bemerkt. Der Punkt ist, in Textform kann eine exegetische Herangehensweise sinnvoll sein. Als Vortrag funktioniert es dagegen nicht, weil es dem Publikum – vor allem, wenn auch noch vorgelesen wird – es extrem schwer gemacht wird zu folgen.   

Zum Thema der Ad-Hoc-Gruppe möchte ich zum Abschluss nochmal meine Wortmeldung wiederholen und ergänzen. Luhmanns Systemtheorie wird gerade durch den Verzicht auf Moral höchst moralisch. Die einzelnen Funktionssysteme der modernen Gesellschaft sind funktionale Äquivalente zur Moral. Wer die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der Inklusionsmodi einzelner Funktionssysteme beurteilen will, muss sich darauf einlassen. Die Systemtheorie bietet die analytischen Mittel, um die Operationsweise der Funktionssysteme zu verstehen. Die Funktionssysteme regeln wer wie im Kontext des jeweils zu lösenden Bezugsproblems Aufmerksamkeit bekommt oder nicht – das gilt für Leistungserbringer und Leistungsempfänger gleichermaßen. Daraus ergibt sich das Kritische Potential der Systemtheorie. Dann gehört es jedoch auch zur wissenschaftlichen Redlichkeit dazu, dass man deutlich macht, warum sich z. B. rechtliche Kommunikation nicht auf das Weinen einer Zeugin im Gerichtssaal einlassen kann. Empathie allein entfaltet noch kein Kritisches Potential, denn das Fühlen und Erleben einer Person muss immer ins Verhältnis zum Fühlen und Erleben der jeweiligen Kommunikationspartner gesetzt werden. Dabei wird sich zeigen, dass nicht nur die Formen die Welt zu beobachten kontingent geworden sind, sondern unsere Weisen zu Fühlen ebenso. Subjektivität bzw. die Einzigartigkeit des eigenen Erlebens und Fühlens kann daher in der modernen Gesellschaft keinen Anspruch auf absolute Notwendigkeit oder gar Unantastbarkeit erheben. Man würde ansonsten nur einem unkritischen Egozentrismus der Leidenden Vorschub leisten, der erst die Probleme schafft, die man eigentlich lösen will. Das haben Kritische Soziologen, egal welcher Schule, leider bis heute nicht verstanden.

Öffentliche Soziologie

Während der Dienstag und Mittwoch stärker im Zeichen der Systemtheorie standen, wurden der Donnerstag und Freitag durch das Thema Öffentliche Soziologie geprägt. Dass dieses Thema nun verstärkt in soziologieinterne Öffentlichkeiten getragen wird, liegt an dem registrierten Relevanzverlust der Soziologie. Diesen Relevanzverlust finde auch ich bedenklich, denn von dem Wissen der Soziologie kann jeder profitieren. Leider fehlen der Soziologie heute das nötige Selbstbewusstsein und das Wissen über die eigenen Stärken, was sich dann in einem sehr defensiven und zögerlichen Auftreten in außerwissenschaftlichen Öffentlichkeiten bemerkbar macht. Eine wichtige Frage, die sich in Bezug auf Öffentliche Soziologie ergibt, ist, wer sich heute überhaupt noch für soziologische Themen interessiert. Es ist eine Frage nach den Publika der Soziologie. Dieser Frage widmete sich die von Stefan Selke und Oliver Neun organisierte Ad-Hoc-Gruppe „Öffentliche Soziologie: die Soziologie und ihre Publika“. Die Veranstaltung hob sich schon allein deswegen von den anderen Veranstaltungen, die ich besucht hatte, wohltuend ab, weil hier überwiegend wirklich noch vorgetragen und nicht abgelesen wurde.

Den Anfang machte Manfred Pirsching von der Universität Graz mit seinem Vortrag „Das Publikum – ein unbekanntes Wesen. Zur Soziologie des öffentlichen Vortrags“. Ausgangspunkt seines Vortrags war die gegenwärtig etwas paradoxe Situation, dass es auf der einen Seite eine Unmenge an Themen gibt, zu denen sich die Soziologie nicht äußern könne, zu denen aber eine Nachfrage nach einer soziologischen Perspektive besteht. Der Soziologie gelingt es viel zu selten diese bestehende Nachfrage zu befriedigen. Pirsching stellte eine gewisse Ignoranz gegenüber der Nachfrageseite, also dem Publikum, fest. Hinzu kommt noch eine Zögerlichkeit auf die öffentliche Nachfrage einzugehen, die aus einer Trivialisierungsangst entspringt. Wer sich als Soziologe an ein außerwissenschaftliches Publikum wenden, hat mit Reputationsverlusten innerhalb des Fachs zu rechnen, weil man gegenüber einen Laienpublikum das Wissen anders vermitteln muss als gegenüber einem Fachpublikum – zumeist einfacher, was als Trivialisierung wahrgenommen wird. Dem gegenüber besteht bei den Soziologen, die sich nicht scheuen in die Öffentlichkeit zu gehen, die Gefahr, dass die Soziologie zu sehr als ein politisches Agitationsinstrument wahrgenommen wird. Wie es zu diesem starken Missverhältnis zwischen Nachfrage und Angebot kommt, versuchte Pirsching tiefergehend am Beispiel des öffentlichen Vortrags zu erläutern. Für die Verbreitung soziologischen Wissens gibt es diverse Möglichkeiten über Presse, Rundfunk, Fernsehen und eben auch öffentliche Vorträge. Pirsching identifizierte vier Erfahrungen und Probleme, die sich bei Öffentlichen Vorträgen ergeben. Das erste Problem besteht in der Auswahl von Themen, die einen Allgemein- oder Aktualitätsbezug vermissen lassen. Das zweite Problem besteht darin, dass nicht genügend auf das Orientierungsverlangen des Publikums eingegangen wird. Während das Publikum vor allem Deutungsangebote erwartet, treten Soziologen häufig als „intellektuelle Sozialarbeiter“ auf, die zumeist vorschnell Handlungsvorschläge unterbreiten. Ein drittes Problem liegt in den extrem heterogenen Wissensbeständen mit denen das Publikum die Vorträge von Soziologen rezipiert. Pirsching sprach von „wissenssoziologischer Kompatibilität“. Ich würde diese Kompatibilität auch als Resonanz bezeichnen. Das vierte Problem hängt unmittelbar damit zusammen. Resonanz löst man vor allem mit Themen oder Problemen aus, von denen das Publikum selbst betroffen ist. Dies allein reicht jedoch nicht, wenn man nicht in der Lage ist, das eigene Deutungsangebot in einer Form zu präsentieren, mit dem das Publikum etwas anfangen kann. Es ist also eine Übersetzungsleistung notwendig. Mit diesen vier Problemen identifiziert Pirsching nicht nur Probleme, sondern auch Herausforderungen, die Öffentliche Soziologen meistern müssen, um Resonanz beim Publikum zu erzeugen. Ausgehend von seiner Problemdarstellung unterschied er schließlich drei Formen von Publika (hochspezialisiert, professionell, allgemein) und drei Formen von Vorträgen (quasi-wissenschaftlich, spezialisiert, generalisiert). Auch wenn Pirsching sich zunächst nur auf öffentliche Vorträge konzentriert hat, bestehen die beschriebenen vier Herausforderungen auch im Hinblick auf die anderen Verbreitungsmedien. Wobei hier dann auch die jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen der einzelnen Verbreitungsmedien berücksichtig werden müssen [3]. Insgesamt war Pirschings Vortrag ein sehr gelungener und instruktiver Einstieg in das Thema.

Im darauf folgenden Vortrag widmete sich Daniel Grummt von der Universität Halle-Wittenberg in seinem Vortrag „Sociology goes public. Der »Science Slam« als geeignetes Format für die Vermittlung soziologischer Erkenntnisse?“ einer sehr speziellen Form der Wissensverbreitung. Der Science Slam bietet Wissenschaftlern aller Fachrichtung die Möglichkeit ihre Erkenntnisse in einer prägnanten und unterhaltsamen Form zu präsentieren. Auffällig ist aber auch bei diesem Format, dass Soziologen so gut wie nicht vertreten sind. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich Soziologen überwiegend mit schweren Themen, wie Soziale Ungleichheit, Entfremdung, Krisen, Krieg u. ä., beschäftigen, die sich stark gegen eine unterhaltsame Aufbereitung sperren. Hier argumentierte Grummt zunächst unter Bezug auf Henri Bergson, dass man auch über den Tod lachen könnte und das es eigentlich gar keinen Grund gebe, warum nicht auch Soziologen an Science Slams teilnehmen sollten, wenn es ihnen nur gelingen würde solche schwere Themen unterhaltsam aufzubereiten. In der anschließenden Diskussion unterstützte ich die Forderung, dass Soziologen durchaus solche Verbreitungsformate nutzen sollten. Ich habe allerdings Zweifel, ob solche schweren Themen dafür wirklich geeignet sind. Politische Themen sind bei geselligen Anlässen häufig ein verlässlicher Stimmungskiller. Am Vorabend auf dem KrisenFEST wurde mir dieser Beobachtung erst erneut bestätigt als eine Gesprächspartnerin versuchte mich von ihrer wirren feministischen Weltsicht zu überzeugen. Ich befürchte, dies wird auch bei Science Slams nicht anders sein. Zudem besteht die Gefahr, dass man zu leicht ins politische Kabarett abrutscht. Während diese Tendenz von einigen Teilnehmern begrüßt wurde, sehe ich hier das bereits von Manfred Prisching angesprochene Problem, dass man zu leicht wieder in die politische Agitation abdriftet, denn politisches Kabarett ist genau das. 

Für mich ergab sich aus Grummts Vortrag die grundsätzliche Frage, warum sich Soziologen eigentlich nur mit deprimierenden Themen befassen müssen. Wenn sich der soziologische Blick darin erschöpft nur in die Abgründe der Gesellschaft zu blicken, dann braucht man sich über die Anschlussprobleme der Soziologie nicht zu wundern. Darüber hinaus kann es nicht nur darum gehen das Wissen über einen bestimmten Forschungsgegenstand zu verbreiten, sondern das eigentliche Ziel sollte die Verbreitung des soziologischen Denkens selbst sein. Dieses kann immer nur an einzelnen Phänomenen vorgeführt werden. Wenn es bei Öffentlicher Soziologie darum geht soziologisches Denken zu verbreiten, wäre es vor allem für Unterhaltungsformate sinnvoll den soziologischen Blick nicht nur auf die Schattenseiten der Gesellschaft zu richten, sondern auch auf die positiven Seiten. Der soziologische Blick darf nicht nur deprimieren, sondern muss auch Freude bereiten. Solange es Soziologen nicht gelingt zu vermitteln, warum ihnen ihre Arbeit Freude macht und warum es sich lohnen kann soziologisch zu denken, werden sie immer Anschlussprobleme haben.

Wie man das Interesse des Publikums wecken kann, zeigte Fran Osrecki in seinem Vortrag „Soziologische Zeitdiagnosen als »Publikumsmagneten«. Gegenwartsdiagnostische Argumentationsmuster und deren massenmediale Anschlussfähigkeit“. Osrecki beschrieb, dass die Diagnosen von Kontinuitätsbrüchen immer auf Neuheiten in der gesellschaftlichen Entwicklung abstellen und gerade dadurch den Selektionsmechanismen der Massenmedien sehr entgegen kommen. Durch die massenmedialen Präferenzmuster besteht für Soziologen ein starker Anreiz durch solche Zeitdiagnosen öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Der Vorteil liegt klar auf der Hand: Soziologen werden öffentlich sichtbar. Der Nachteil bzw. das Risiko besteht jedoch darin, dass Soziologen ihre Forschungs- und Verbreitungsaktivitäten zu sehr an den Selektionsmechanismen der Massenmedien ausrichten und weniger an wissenschaftlichen Kriterien. Für Osrecki ist dies der Preis den Soziologen bzw. die Soziologie zahlen müsse, um öffentliche Resonanz zu erzeugen. In der anschließenden Diskussion äußerte ich jedoch meine Bedenken, ob dieser Preis nicht möglicherweise zu hoch ist. Osreckis Beschreibung der Mechanismen zur Erregung von massenmedialer Aufmerksamkeit teile ich weitestgehend. Ich sehe jedoch die beträchtliche Gefahr einer Inflation der Zeitdiagnosen und einen Überbietungswettbewerb – nicht nur in Zeit- sondern auch in Krisendiagnosen. Soziologische Deutungsangebote dürfen aber nicht nur an ihrer Aufmerksamkeitsträchtigkeit gemessen werden. Gerade wenn es darum geht Orientierung zu bieten, kann eine Inflation von Zeit- und Krisendiagnosen schnell zu einem Orientierungsverlust und zu einer Übersättigung führen, die wiederum den Relevanzverlust der Soziologie vorantreiben können. 

Symptomatisch wurde dieses Problem in Ulrich Becks Laudatio für Zygmut Baumann vorgeführt. Beck bemerkt: „In der Tat, jedes einzelne Buch [von Baumann, BdM] in der letzten Dekade kann als Meisterwerk gelesen werden, …“. Baumann hat sich, wie viele Soziologen vor ihm, auf die negativen Aspekte der modernen Gesellschaft konzentriert und sie soweit verallgemeinert, dass die Moderne nur noch als Schreckens- und Horrorszenario erscheint. Wenn man es nur zum Meisterwerk schafft, wenn man die Gesellschaft als einzigen Alptraum beschreibt, was Baumann Becks Zusammenfassung seines Werks nach getan hat, dann macht es das Problem der zu starken massenmedialen Relevanz deutlich. Krisendiagnosen sind genauso wie Zeitdiagnosen massenmedial sehr gut verwertbar und es ist sehr verführerisch diesen Zusammenhang zu verstärken, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Ob das jedoch auch immer wissenschaftlich relevant ist, erscheint mir doch sehr zweifelhaft. Soziologen sollten also darauf achten den Wandel oder die Krisenhaftigkeit nicht zu stark zu betonen und zu effekthascherisch darzustellen, sondern auch auf die Kontinuitäten oder die funktionierenden Momente der Gesellschaft aufmerksam zu machen. Ansonsten würden Soziologen nämlich dazu beitragen einseitig verzerrte Bilder der Gesellschaft zu verbreiten. Eine Tendenz in diese Richtung kann man bereits gegenwärtig beobachten. Sie trägt auch zum Relevanzverlust der Soziologie bei.

Diese drei Vorträge lieferten für mich die meisten Denkanstöße. Darüber hinaus referierten Jaspar W. Korte und Christoph Mautz über Öffentliche Selbst- und Fremddarstellungen der Soziologie am Beispiel von Internetauftritten einzelner Soziologieinstitute und deren Mitarbeitern. Jan-Felix Schrape fragte nach der Markenidentität der Soziologie. Annette Treibel beschrieb die Lagerbildung und das fragmentierte Publikum in der öffentlichen Migrationssoziologie und Michael Reif die starken Bedenken gegen eine Öffentliche Soziologie bei den Professionalisierungsbemühungen in der frühen deutschen Soziologie. Alle Vorträge gingen auf verschiedene Aspekte und Probleme einer Öffentlichen Soziologie ein. Im Fokus standen jedoch mehr der Markenkern der Soziologie und die Verbreitungsmethoden soziologischen Wissens. Das Publikum der Soziologie blieb, wie es Pirsching so schön ausdrückte, das unbekannte Wesen. Denn die Frage, wer sich für Öffentliche Soziologie interessiert, blieb weitestgehend unbeantwortet. Solange allerdings unklar bleibt, was Soziologie eigentlich zu bieten hat, wird diese Frage auch schwer zu beantworten sein. Wahrscheinlich muss wirklich erstmal geklärt werden, was der Markenkern der Soziologie ist.

Wo bleibt der soziologische Diskurs?

Thematisch schloss die Ad-Hoc-Gruppe des Soziologiemagazins mit dem Titel „Krise der Kommunikation: Wo bleibt der soziologische Diskurs?“ am Freitag direkt an das Thema vom Vortag an. Passenderweise war Stefan Selke, der das Thema Öffentliche Soziologie und Öffentliche Wissenschaft an vorderster Front vorantreibt, der erste Redner an diesem Morgen. In einem ersten Schritt versuchte er in seinem Vortrag über die Frage nach dem Wandel im Passungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit herauszuarbeiten, was Öffentliches Wissen heute zu leisten hat. Auch ihm geht es darum, wie Soziologie Resonanz beim Publikum auslösen kann. Er kritisiere aber vor allem dass sich in dem zur Verfügung gestellten Wissen ausdrückende überkommene Selbstverständnis der Soziologie als Instanz. Mit Hilfe von acht Indikatoren zeichnete er das Bild einer Soziologie, die sich immer noch als unfehlbare Verkünderin der Wahrheit versteht und sich für andere Perspektiven nicht sonderlich interessiert. Es fehlt ein Dialog mit der Umwelt. Im Anschluss an diesen Problemaufriss unterschied Selke drei Dimensionen Öffentlicher Wissenschaft: 1. Die Umweltorientierung und den damit korrespondierenden Persönlichkeitstyps des einzelnen Wissenschaftlers, 2. Drei verschiedene Wissenschaftsauffassungen (Loyalität, Affirmation, Ablehnung) und 3. Die Leitdifferenz für den Wahrheitsanspruch. Mit Hilfe dieser Dimensionen konnte das bereits kritisierte Selbstverständnis der Soziologie weiter präzisiert werden, um daraus schließlich die Krise soziologischer Kommunikation zu erklären. Diese kann man an der häufig verwendeten Übersetzungsmetapher erkennen. In ihr spiegelt sich das soziologische Selbstverständnis als Instanz, weil es darum geht, durch die Übersetzung eine Barriere zwischen der Soziologie und ihrer Umwelt zu überwinden. Die Krise zeigt sich auch in den Nachwirkungen bekannter Pathosformeln, egal welcher Schulen. Häufig drückt sich in soziologischer Kommunikation eine institutionelle Überheblichkeit aus, die mehr nach Distinktion als nach Wissensverbreitung strebt. Durch diese Schließungstendenzen wird ebenfalls der Eindruck einer freischwebenden Soziologie über der Gesellschaft erweckt, die kaum in der Lage ist, sich auf die wirklichen Probleme der Menschen einzulassen. Um diese Probleme überwinden zu können, kündigte Selke an im kommenden Jahr das Public Science Lab zu eröffnen. Es handelt sich dabei um eine Plattform zum Experimentieren mit neuen Forschungspraktiken aber auch neuen Formen zur Verbreitung des Wissens. Man darf gespannt sein [4].

Im Anschluss daran ging Clemens Albrecht in seinem Kommentar zu Selkes Vortrag vor allem auf die Chancen und Probleme der Zusammenarbeit mit den Massenmedien ein. Sie steigern natürlich die öffentliche Sichtbarkeit einzelner Soziologen und können eine neue Form des Reputationsgewinns bedeuten. Dies trägt darüber hinaus zu einem Ansehensgewinn der Soziologie im Allgemeinen bei. Der wichtigste Punkt, auf den Albrecht hinwies, war, dass man bei der Kooperation mit Journalisten nicht kontrollieren kann, was aus den Informationen gemacht wird, die man Journalisten mitteilt.

Als drittes war ich an der Reihe. Mein Vortrag „Hat sich die Soziologie in einem double bind verfangen?“ beleuchtete die Probleme der Soziologie aus einer stark kommunikationstheoretischen Perspektive [5]. Aufgrund der Zeitvorgabe von 15 Minuten konnte ich nicht so ausführlich auf die Doppelbindungstheorie von Gregory Bateson eingehen, wie ursprünglich geplant. Da der DGS-Kongress in Trier stattfand half ich mir mit einer Reverenz auf Karl Marx. Man kann die Doppelbindungstheorie auch als eine Neuformulierung von Marx lesen, der ja davon ausging, dass der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen zugrunde geht. Grob vereinfacht, kann man die Doppelbindungstheorie in Bezug auf Familiensysteme genauso lesen. Ich versuchte im Anschluss daran zu zeigen, dass die Soziologie an den inneren Widersprüchen ihrer Selbstbeschreibung zugrunde gehen kann. Häufig beanspruchen Soziologen die Gesellschaft nicht nur erklären sondern auch verändern zu wollen. Mit Hilfe der Theorie funktionaler Differenzierung habe ich versucht zu zeigen, dass damit auf zwei unterschiedliche soziale Probleme Bezug genommen wird, die heute von unterschiedlichen Funktionssystemen der modernen Gesellschaft gelöst werden – nämlich Wissenschaft und Soziale Arbeit. Die besagte Selbstbeschreibung zwingt Soziologen dann dazu zwei Rollen zugleich wahrnehmen zu müssen – nämlich die des Wissenschaftlers und die des Sozialarbeiters. Durch die Vermischung haben Soziologen heute häufig gravierende Anschlussprobleme. Dieses Problem kann nur gelöst werden, wenn sich die Soziologie nur als Wissenschaft begreift und den Veränderungsanspruch aufgibt. Paradoxerweise ist das der Weg, wie die Soziologie soziale Veränderungen anregen kann. Der innere Widerspruch der Soziologie kann also nicht aufgelöst werden, sondern nur eine Entscheidung für Wissenschaft kann von diesem Widerspruch befreien. Die Krise der soziologischen Kommunikation lässt sich besser verstehen, wenn man berücksichtigt, dass zurzeit die Rollen von Wissenschaftler und Sozialarbeiter von Soziologen häufig vermischt werden. In der anschließenden Diskussion versuchte ich noch zu zeigen, dass gerade der systemtheoretische Gesellschaftsbegriff, verstanden als Gesamtheit der stattfinden Kommunikation, den Vorteil bietet konkrete Veränderungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Gerade weil Gesellschaft als Kommunikation zugleich das Abstrakteste und das Konkreteste ist, liegt der Ansatzpunkt für Gesellschaftsveränderungen nicht bei irgendwelchen abstrakten, unerreichbaren Strukturen sondern jeder einzelne kann durch sein Verhalten dazu beitragen die Gesellschaft, also die Kommunikation, zu verändern - vielleicht nicht global, dafür aber lokal. 

Im folgenden Vortrag „WissKom 2.0 – Über den kommunikativen Haushalt der Online-Kommunikation von Hochschulen“ machte Stefan Bauernschmidt eine sehr scharfsinnige Beobachtung. Während Naturwissenschaftler leicht durch die Werkzeuge zu erkennen sind, mit denen sie arbeiten, sind Soziologen nicht durch ihre Werkzeuge erkennbar. Dies wirkt sich dann auch auf die öffentliche Sichtbarkeit von Soziologen aus. Während sich die Werkzeuge wie der Erlmeyerkolben bei den Chemikern oder das Forschungsobjekt wie der DNS-Strang bei Biologen leicht in Embleme oder Wappen, also so eine Art Zunftzeichen, verwandeln lassen, fehlt den Soziologen durch die Flüchtigkeit ihres Forschungsgegenstandes diese Möglichkeit und damit auch ein prägnantes Erkennungszeichen. Darüber hatte ich vorher noch nie nachgedacht. Bei genauerer Betrachtung hat er damit einen ziemlich interessanten und für Soziologen auch irgendwie herausfordernden Punkt gemacht [6].

Andreas Stückler ging in seinem Vortrag „Soziologische Kritik und gesellschaftsverändernde Praxis. Oder: Warum Soziologie sich so schwer tut, die Welt zu verändern“ zunächst auf die  Probleme der Kritischen Theorie sein. Er arbeitete heraus, dass die Kritische Theorie durch die Form, wie Kritik geübt wird, die bestehenden Verhältnisse sogar noch gestützt werden anstatt sie zu verändern. Im Anschluss daran versuchte er zu zeigen, wie die Kritische Theorie doch ihrem gesellschaftsverändernden Anspruch gerecht werden kann. Stückler teilte meinen Eindruck, dass man durch den Veränderungsanspruch in gewisser Weise zu einem schizophrenen Verhalten genötigt wird, was ich durch den Bezug auf die double-bind-Theorie nahelegte. Während ich jedoch in meinem Vortrag dafür plädierte den Veränderungsanspruch aufzugeben, um sich von dieser Schizophrenie zu befreien, war er der Meinung, diese Schizophrenie müsste man als Soziologe mit kritischem und gesellschaftsveränderndem Anspruch ertragen. Diese „mehr-desselben“-Haltung hatte mich dann doch etwas überrascht. Während ich seiner Problemanalyse in weiten Teilen folgen würde, sind unsere Lösungsvorschläge diametral entgegengesetzt. Man wird sehen welcher sich durchsetzen wird.

Fazit

Systemtheorie und die Krise der Soziologie waren für mich die thematischen Schwerpunkte des Kongresses. Dass ich die zwei Veranstaltungen zur Öffentlichen Soziologie besucht habe, lag daran, dass ich die gegenwärtigen Bemühungen um eine Öffentliche Soziologie als eine Reaktion auf die Krise der Soziologie verstehe. In der Soziologie selbst wird diese Krise nur als Relevanzverlust registriert. Öffentliche Soziologie ist sicherlich heute eine wichtige Baustelle. Der Relevanzverlust der Soziologie ist jedoch nur ein Symptom für ein viel tieferliegendes Problem, nämlich das eigene Selbstverständnis. Ich habe versucht dies in meinem Vortrag an der widersprüchlichen Selbstbeschreibung der Soziologie zu verdeutlichen. Egal wie man es beschreibt. Solange Soziologen nur belehrend und erziehend wirken, drückt sich darin ein widersprüchliches und überkommenes Selbstverständnis aus, das an den Aufklärungsbedürfnissen des soziologisch interessierten Publikums vorbei kommuniziert. Dies lässt sich nicht an einzelnen Theorieschulen festmachen, sondern zieht sich durch alle hindurch. Wenn jedoch eine Öffentliche Soziologie erfolgreich sein will, muss zu allererst geklärt werden, was eine Soziologie als Wissenschaftsdisziplin in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft leisten soll. Solange sich Soziologen diese Frage selbst nicht beantworten können, werden sie auch Anschlussprobleme bei Nicht-Soziologen haben bzw. solange wird auch Öffentliche Soziologie nicht die Lösung der Krise sein. Das Problem der Soziologie ist eigentlich nicht die fehlende Öffentlichkeit. Öffentlichkeit bedeutet nur die Möglichkeit Aufmerksamkeit zu erlangen. Jeder der will, kann sich Zugang zu soziologischem Wissen verschaffen. Die Frage ist, warum werden die Möglichkeiten dazu nicht genutzt? Nicht fehlende Öffentlichkeit ist das Problem der Soziologie, sondern fehlende Aufmerksamkeit. Die Frage muss daher lauten, warum es nicht gelingt die Aufmerksamkeit des Publikums zu binden? Die Formen der Wissensverbreitung sind aus dieser Perspektive nur das Symptom. Die Ursache ist das widersprüchliche und überkommen Selbstverständnis der Soziologie. Wichtig sind beide Aspekte – Verbreitungsmethoden und Selbstverständnis. Das eine lässt sich ohne das andere nicht verstehen. Ich habe durch den DGS-Kongress so viele Anregungen erhalten, dass ich einige Gedanken, die ich hier nur andeuten konnte in kommenden Beiträgen weiter ausarbeiten werden, um auszuloten, welche Wege aus der Krise führen können.

Anzeichen für die Krise der Soziologie ließen sich auf dem DGS-Kongress zur Genüge finden. Gleichwohl gab es auch Hinweise, dass es gelingen kann, diese Krise zu überwinden. Gerade unter dem Wissenschaftsnachwuchs gibt es nicht nur ein Problembewusstsein, sondern auch eine stärkere Lösungsorientierung. Ich hoffe nur, dass er durch die derzeit bestehenden institutionellen Barrieren nicht doch noch frühzeitig rausgeekelt wird, bevor er an Wirkungsstätten gelangt, an denen sie für nachhaltige Veränderungen sorgen können. Ich kann allerdings nur davor warnen eine Wissenschaftskarriere als einzige Option zu betrachten. Die Chance, Veränderungen anzuregen, hat jeder durch sein eigenes Verhalten, unabhängig davon an welcher Stelle man beruflich tätig wird. Manchmal muss man seine Richtung um 180 Grad drehen und sich vom Ziel wegbewegen, um es zu erreichen. Hier kann ich nur mich selbst als Beispiel anführen. Obwohl ich nicht als Soziologe arbeite, habe ich mir trotzdem eine Möglichkeit geschaffen einen Beitrag zur Öffentlichen Soziologie leisten zu können.

Wie verhält es sich nun mit dem eingangs erwähnten Buchtitel „Stranger in a strange land“? Der Roman handelt von einem Menschen, der in einer außerirdischen Kultur aufgewachsen ist und als Erwachsener auf die Erde kommt. Er nimmt die menschliche Kultur aus der Sicht der Außerirdischen war und muss langsam und mühsam lernen, das menschliche Verhalten zu verstehen. Bei mir liegt der Fall etwas anders. Ich bin zwar auf dem „Heimatplaneten“ Soziologie aufgewachsen, war aber schon damals ein Außenseiter. Ich habe mich nicht nur von der Oberfläche faszinieren lassen, die häufig nur ein übersteigertes Distinktions- und Geltungsbedürfnis erkennen ließ, sondern ich habe gelernt, wie man sich ein Bild von der Hinterbühne machen kann, ohne sie direkt beobachten zu können. Das ist eine der wichtigsten Fähigkeiten, die die Soziologie vermitteln sollte. Denn diese Fähigkeit ist die Voraussetzung für kritisches Denken. Doch diese Fähigkeit wird den Studenten häufig nicht gelehrt. Dann musste ich mein Glück in einer fremden Welt suchen, in der ich jedoch heimisch geworden bin. Dabei hat mir diese Fähigkeit sehr geholfen. Nun kehrte ich auf den Heimatplaneten zurück und er war mir genauso fremd wie damals, zumindest wenn er mir in der Gestalt des Gelehrten gegenübertrat. Der Gelehrte ist jedoch zunächst nur ein Oberflächen- bzw. Vorderbühnenphänomen. In ihm kulminieren das Distinktionsbedürfnis und die Geltungssucht. Es zeugt nicht von Wissbegier und Forscherdrang, es geht nur um die Verteidigung der eigenen Weltsicht. Doch ein Oberflächenphänomen ist immer nur die Spitze des Eisbergs und repräsentiert nicht das Ganze. Die kritischen Geister habe ich erst zwischen den Veranstaltungen, auf der Hinterbühne, kennengelernt und es sind nicht die, die sich ostentativ kritisch geben. Es sind die, die einfach versuchen ihre selbstgesteckten Ziele zu erreichen und sich dabei nicht irgendwelchen Theorieschulen und Gruppenloyalitäten verpflichtet fühlen, sondern ganz pragmatisch in Abhängigkeit von der Zielen und Problemen Kooperationen und Allianzen suchen. Sie versuchen einfach das Beste aus ihrem Leben zu machen und suchen die Chancen und Gelegenheiten dafür. Sie nehmen ihr Leben in die Hand und verändern so praktisch die Welt. Sie reden nicht darüber, sie tun es einfach. Das ist die Welt, in der ich zu Hause bin. Leider gibt es in der Welt der institutionalisierten Soziologie Deutschlands kaum Möglichkeiten, dass diese andere Welt unter der Oberfläche, also das wirkliche Leben mit all seinen Sonnen- und Schattenseiten, in dieser Welt zum Ausdruck kommt. Sie wird auf die Hinterbühne verbannt und tabuisiert.

Der erste Schritt auf dem Weg aus der Krise ist eine brauchbare Beschreibung der Krise bzw. des Problems. Brauchbar ist eine Problembeschreibung dann, wenn sie auch Lösungsansätze erkennen lässt. Die Lösung sehe ich in der Verstärkung des Forschergeistes, der aktuell noch eher die Ausnahme als die Regel ist. Der Forschergeist ist aktiv und offensiv, der Gelehrtengeist passiv und defensiv. Dem Forschergeist könnte es spielend gelingen, den Gelehrten zu verdrängen, wenn er nicht etwas öffentlichkeitsscheu wäre. Es gilt noch eine wichtige Lektion zu lernen, die auch ich erst lernen musste: tue Gutes und rede darüber! Ansonsten wird niemand davon Notiz nehmen. Zurzeit dominieren noch die, die reden, aber ansonsten nichts weiter tun und das schon als etwas Gutes verkaufen wollen. Das reicht heute leider häufig schon aus, um sich in den Vordergrund zu drängen. Doch es ist längst nicht genug einfach nur das Gerede am Laufen zu halten. Damit wir uns nicht falsch verstehen, Gelehrsamkeit kann niemals schaden. Aber was nützt ein umfangreiches Wissen, wenn es keine praktischen Konsequenzen in Form von sozialen Veränderungen hat? Wissen bedeutet Verantwortung. Verantwortungsbewusstsein zeigt sich nicht im Denken, sondern im Handeln. Mit Blick auf die Gesellschaftskritiker muss auch die Frage gestellt werden, was nützt der Wille zur Veränderung, wenn man nicht weiß wie? Wer handelt ohne zu denken, der handelt von vorn herein verantwortungslos. Weder das Wissen allein, noch die Wille zum Handeln allein, machen einen guten Soziologen aus. Gelehrsamkeit plus Kritizismus ist ein effektives Mittel in sich selbst den letzten Rest eigenständiger Verstandestätigkeit und Handlungsmotivation abzutöten. Erleben ist nicht ohne Handeln und Handeln nicht ohne Erleben möglich. Es gilt immer, nicht nur in der Soziologie, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Selbstbewusstsein und Umweltorientierung zu finden. Solange jedoch die institutionelle Soziologie nur mit sich selbst beschäftigt ist, wird die Lebens(welt)fremdheit, die sich darin ausdrückt, immer ein Legitimationsproblem für sie darstellen.

Was letztlich mit dem Besuch des DGS-Kongresses bestätigt wurde, war mein extrem zwiespältiges Verhältnis zur Soziologie. Das wird wahrscheinlich auch immer so bleiben. Meine Verbundenheit wird immer der Hinterbühne oder, wenn man so sagen darf, der Unterwelt oder dem Underground gelten. Es ist die Welt der Personen und nicht die der Klischees. Der DGS-Kongress war insofern eine interessante Erfahrung, weil er mir die beschriebenen Unterschiede in einer Deutlichkeit vor Augen geführt hat, wie ich sie ohne die Teilnahme niemals hätte beobachten können. Und auch wenn vieles etwas pessimistisch klingen mag, werde ich die Teilnahme in positiver Erinnerung behalten. Die Personen, denen ich dies verdanke, möchte ich an dieser Stelle nochmal herzlich grüßen: Stefan, Jan, Marianne, Dominik, Conny, Frank, Oliver und die Mädels und Jungs vom Soziologiemagazin.


Kontakt: destination.unkown@gmx.net
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[1] Die Thesen können hier nachgelesen werden.
[2] Der Vortrag kann hier nachgelesen werden.
[3] Aufmerksame Leserinnen und Leser werden bereits bemerkt haben, dass ich mich weiter oben selbst an einer Soziologie des öffentlichen Vortrags versucht habe.
[4] Näheres dazu auch hier und einige seiner Eindrücke vom DGS-Kongress schildert Stefan Selke hier.
[5] Mein Vortrag kann hier nachgelesen werden.
[6] Hier ausführlicher zum Nachlesen. 

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